Das Ende »dieser« Welt
und das Erscheinen des Menschensohnes
Der Tod Jesu erschüttert die
Welt
(Mt 27, 50 - 53)
Nach der Krise der Apostel verstehen wir jetzt auch die archetypische
Symbolik der biblischen Szenen vom Weltuntergang und vom jüngsten Gericht:
Es ist die Reinigung vor der Wiedergeburt aus dem Geist. Die Krise der Apostel
ist durch den Tod Jesu ausgelöst worden. Sein Tod war für sie Weltuntergang und
jüngstes Gericht zugleich. Und durch ihn haben sie ihre Wiedergeburt aus dem
Geist erfahren. Für den Evangelisten Matthäus ist der Tod Jesu daher nicht
einfach nur ein historisches Ereignis, sondern ein kosmisches Drama:
50 Jesus aber schrie wieder laut auf. Dann hauchte er den Geist aus.
51 Und sieh, der Vorhang des Tempels riß entzwei von oben bis unten.
Die Erde bebte und die Felsen spalteten sich.
52 und die Gräber öffneten sich
und die Leiber vieler Heiliger, die entschlafen waren, erwachten.
53 Nach seiner Erweckung kamen sie aus ihren Gräbern,
gingen in die Heilige Stadt hinein und erschienen vielen.
Damit die Auferstehung geschehen kann, muß die alte Welt zerbrechen: Die
Erde bebt, die Felsen spalten sich und - der Vorhang vor dem Allerheiligsten im
Tempel reißt entzwei. Der Alte
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gen gewesen in ihren Gräbern, d.h. in dem zu
einem »Denkmal« (im Griechischen das gleiche Wort wie »Grab«) erstarrten
Verständnis ihrer Worte und Taten. Jetzt erst können sie wieder gesehen werden.
Meditation
Komme zuerst innerlich zur Ruhe. Beobachte für eine Weile nur, wie dein Atem ein- und ausströmt. Dann wende dich der Szene der Kreuzigung zu.
Laß dich berühren von dem, was da geschieht. Und sieh dir die Leute an, die
daran beteiligt sind: Jünger, Frauen, die Mutter Jesu, die Soldaten, die
anderen Gekreuzigten. Sieh dir das, was da geschieht, mit deren Augen an. Und
dann mit deinen eigenen. Wunderst du dich darüber, daß Jesus das mit sich
geschehen ließ? Wenn er ein wirklicher Meister war, dann kann er nicht ein
hilfloses Opfer gewesen sein! Was also hat ihn bewegt? Diesem schwer
Begreiflichen versuche auf die Spur zu kommen; wage es, dich in sein Erleben
einzufühlen und den Geist, aus dem seine Entscheidung kam, in dir zu wecken.
Erinnere dich, wie Jesus schon lange vorher darüber spricht, daß ihm durch die
religiösen Führer seines Volkes Schlimmes widerfahren wird, wie Petrus ihn
davor bewahren möchte, und wie Jesus ihn daraufhin einen »Satan« nennt, der
»nicht Gottes Gedanken denkt, sondern Menschengedanken« (Mt 16,21t). Wir alle
denken manchmal, wie Petrus in diesem Moment gedacht hat, und dann gibt es auch
Momente, wo wir Jesus verstehen. Werde jetzt ganz zu Petrus. Spüre seine
Empörung, und dann empfinde die Reaktion Jesu nach. Was ist das für ein Geist,
der aus ihm spricht?
Wenn du die Verwandlung, die die Apostel zwischen Ostern und Pfingsten immer
wieder erfahren haben, wenigstens ein Mal im Keim selbst erlebt hast, dann
kennst du diesen Geist, diese völlige Hingabebereitschaft, dieses
selbstverständliche Da-
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sein für das, was im Augenblick notwendig ist. Wenn du diesen Geist aber
noch nicht kennst, dann geh zurück zu den vorangegangenen Übungen, oder laß dir
jetzt die Wirklichkeit des Todes Jesu voll zu Bewußtsein kommen. Wenn nötig,
lies dazu die Passionsgeschichten und sieh den Menschen, der in diesem Stück
nicht nur die Hauptrolle spielt, sondern der es auch inszeniert als eine
bewußte Demonstration seines Einsseins mit der Wahrheit des Augenblicks. Sieh
seine Kraft und die Wirkung seiner Tat auf seine Schüler! Sieh, wie sie durch
seinen Tod zerrissen werden, wie ihre ganze Welt zerbricht, und sieh, wie sie
sich später verhalten: Wie sie plötzlich furchtlos auftreten, wie sie
füreinander da sind, wie sie ihre Todesangst überwunden haben. Sieh den Prozeß,
der sie verwandelt hat, und empfinde ihn nach. Die Fesseln, die sie sich durch
ihre Weltanschauung angelegt hatten, haben sich unter dem Eindruck seines Todes
gelöst. Schau nun auf die Fesseln, die du dir durch deine Weltsicht angelegt
hast! Was brauchst du, damit sie sich lösen können? Genügt der Tod dieses
Menschen oder müssen erst andere Ereignisse deine Welt erschüttern?
Schau genau hin und sieh, was du unbedingt festhalten zu müssen glaubst; und
dann erinnere dich, was Jesus von dem Allerheiligsten sagt, dem Tempel: »Kein
Stein wird auf dem anderen bleiben«. Erst wenn sich das Allersicherste
aufgelöst hat, kann die Erlösung kommen.
Als das Allersicherste gilt uns normalerweise, daß das Leben der höchste Wert
ist, der um jeden Preis geschützt werden muß. Laß dir diese Ideologie von Jesus
nehmen, laß deine Welt durch seinen Tod erschüttert werden und mache dich
bereit für das, was die Wahrheit jetzt von dir fordert.
In dieser Bereitschaft kehre jetzt zurück zu deinem Atem. Und mit dem Ausatmen laß alles los, was dich festhält und wenn der Atem wiederkommt, erlaube dir erfüllt zu werden von der Wahrheit des Augenblicks.
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Der Tod Jesu hat damals die alte Welt seiner
Schüler gesprengt und er spaltet immer noch die Felsen in der Welt aller
Menschen, denen zum Bewußtsein kommt, was es mit diesem Jesus auf sich hat.
Dieses zum-Bewußtsein-Kommen ist immer ein wirklicher Weltuntergang - der
Untergang der persönlichen Welt des Betroffenen. Da bleibt kein Stein auf dem
anderen. Alles, was wir bisher für wertvoll gehalten haben, alle Ziele, alle
Vorstellungs- und Glaubenssysteme, alles bricht zusammen. Es war nur Illusion,
»Maya«, wie die Hindus sagen.
Und jetzt kann alles von einem neuen Standort aus betrachtet und geordnet
werden nicht mehr unter der Führung des »Ich«, sondern unter der Führung des
Geists, der so lange begraben war unter den Gedanken-Gebäuden.
Jesus wußte, daß es so geschehen würde. In seiner Rede über die Endzeit hat er
diese Verwandlung angekündigt. Und sie ist für viele gekommen, aber nicht für
alle, denn es gibt immer auch die, die noch zu sehr an ihren Vorstellungen
hängen, die noch nicht bereit sind für die Neugeburt aus dem Geist! Sie möchten
das Bild vom Weltende nicht auf sich und ihre »Ich«-Welt beziehen. Und wenn sie
schon sterben müssen, möchten sie wenigstens, daß alle anderen mit ihnen
sterben. Und so verstehen sie die Endzeit- Bilder Jesu nicht subjektiv, sondern
objektiv, wie eine journalistische Prognose über ein Ereignis, das diesen Planeten
zerstört:
Die Rede über die Endzeit
(Mk l3, l-33)
1 Und als Jesus aus dem Tempel herauskommt,
sagt einer seiner Schüler zu ihm:
Meister, sieh, was für Steine und was für Bauten!
2 Und Jesus sagte zu ihm:
Siehst du diese großen Bauten?
Hier wird kein Stein auf dem anderen gelassen, der nicht zerstört würde.
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3 Und als er auf dem Ölberg saß, dem Tempel gegenüber,
befragten ihn Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas für sich allein:
4 Sag uns, wann wird das sein, und was ist das Zeichen,
wann das Ende von all dem erreicht sein wird?
5 Jesus aber begann, zu ihnen zu sagen:
Seht, daß euch nicht einer irreführt!
6 Viele werden in meinem Namen kommen und sagen: Ich bin es!
Und sie werden viele irreführen.
7 Wenn ihr dann von Kriegen hört und Nachrichten über Kriege,
laßt euch nicht erschrecken!
Das muß geschehen (Dan 2,28). Es ist aber noch nicht das Ende.
8 Denn Volk wird sich gegen Volk erheben (Jes 19,2)
und ein Reich gegen das andere.
Und an Orten wird es Erdbeben geben und Hungersnöte.
Das ist der Anfang der Geburtsschmerzen.
9 Ihr aber, schaut auf euch:
Sie werden euch an Gerichte ausliefern
und in Bethäusern wird man euch die Haut abziehen;
und vor Herrscher und Könige werdet ihr gestellt werden
meinetwegen,
zum Beweis für sie.
10 Aber zuerst muß die gute Botschaft zu all den Völkern gebracht werden.
11 Und wenn sie euch vorführen und ausliefern,
dann sorgt euch nicht im Voraus, was ihr sagen sollt;
sondern was immer euch in jener Stunde gegeben wird, das sagt!
Denn nicht ihr seid es, die reden,
sondern der Geist, der heilige.
12 Und ein Bruder wird den Bruder in den Tod schicken
und ein Vater das Kind (Mi 7,6),
und Kinder werden gegen Eltern aufstehen
und sie werden sie töten.
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13 Und ihr werdet von allen gehaßt werden wegen meines Namens;
wer aber durchhält bis ans Ende, der wird gerettet werden.
14 Wenn ihr aber den Greuel der Verwüstung an dem Ort seht,
wo er nicht stehen darf (Dan 9,27; l Makk l ,45) - der Leser begreife -,
dann sollen die in Judäa in die Berge fliehen;
15 der auf dem Dach, soll nicht herabsteigen und hineingehen,
um etwas aus seinem Haus mitzunehmen;
16 und der auf dem Acker soll nicht nach rückwärts umkehren,
um sein Gewand zu holen.
17 Wehe aber den Schwangeren oder den Säugenden in jenen Tagen.
18 Und betet, daß es nicht im Winter geschieht.
19 Denn jene Tage werden eine Schikane sein,
wie es noch nie eine gegeben hat,
von Anfang der Schöpfung, die Gott schuf, bis zum Jetzt
und wie es nie geschehen möge (Dan 12,1; Joel 2,2).
20 Und wenn der Herr diese Tage nicht abgekürzt hätte,
dann würde alles Fleisch nicht gerettet werden;
aber wegen der Auserwählten, die er auswählte,
hat er die Tage abgekürzt.
21 Und dann, wenn einer zu euch sagt:
Sieh, hier ist der Messias! Sieh, dort! Glaubt es nicht!
22 Denn es werden falsche Messiasse und falsche Propheten auftreten,
und sie werden Zeichen und Wunder tun,
um, wenn möglich, die Auserwählten irrezuführen.
23 Ihr aber, seht! Ich habe euch alles vorausgesagt.
24 Aber in jenen Tagen, nach der großen Not,
wird die Sonne verfinstert werden,
und der Mond wird seinen Schein nicht mehr geben;
25 und die Sterne werden aus dem Himmel fallen
(Jes 13,10; Joel 2,10; Hag 2,6.21),
und die Kräfte in den Himmeln werden erschüttert werden.
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26 Und dann werden sie den Sohn des Menschen in Wolken kommen
sehen
mit viel Kraft und Herrlichkeit (Dan 7,13; Offb l ,7).
27 Und dann wird er die Engel aussenden
und er wird die Auserwählten zusammenführen
aus den vier Windrichtungen (Sach 2,10),
vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels.
28 Lernt aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum!
Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, wißt ihr, daß der Sommer
nahe ist.
29 Genauso sollt ihr erkennen, wenn ihr das geschehen seht,
daß das Ende vor der Tür steht.
30 Amen, ich sage euch:
Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles eintrifft.
31 Der Himmel und die Erde werden überholt,
meine Worte aber werden nicht überholt.
32 Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand,
auch nicht die Engel im Himmel, auch nicht der Sohn,
sondern nur der Vater.
33 Seht, schlaft nicht! Denn ihr wißt nicht, wann die Zeit da ist.
Markus hat diese Rede unter dem unmittelbaren Eindruck der Zerstörung
Jerusalems durch die Römer aufgeschrieben und die historischen Anklänge haben
viele Generationen von Christen zu Spekulationen angeregt über die Zukunft der
Welt. Aber sie haben sich damit nur abgelenkt davon, betroffen zu werden.
Jesus war kein Zukunftsforscher. Vielleicht hat er mit einer Zerstörung
Jerusalems und des Tempels durch die Römer gerechnet, aber sicher ist es ihm in
seiner Rede nicht um die Vorhersage der weiteren politischen Entwicklung
gegangen und auch nicht um eine historische Aussage über das Ende dieses
Planeten. Im Einklang mit der alten biblischen Tradition benützt er vielmehr
die »Fakten« des politischen Wandels als archetypische Gleichnisse für das
Kommen des Reiches Gottes. Seine Rede handelt also
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nicht von etwas, das wenige Jahre nach seiner Zeit stattgefunden hat, oder
von etwas, das in ferner Zukunft stattfinden wird, sondern es geht um uns
jetzt. Jesus beschreibt den archetypischen Prozeß unserer Wiedergeburt aus dem
Geist.
Das erste Bild, das er in seiner Rede über die Endzeit gebraucht, ist das von
der Zerstörung des Tempels. Kein Stein wird auf dem ändern bleiben. Jedes
Gebäude wird zerstört werden, auch das eindrucksvollste und heiligste.
Würde Jesus nur das physische »Tempel«-Gebäude meinen, so wäre seine Aussage
banal, aber es geht ihm um das, was dahinter steht, das Gedankengebäude. Gerade
das muß niedergerissen werden vor der Neugeburt. Der Prozeß der Verwandlung
beginnt damit, daß alle Maßstäbe und alle Konstruktionen zerbrechen. (1f.)
Dann aber gibt es keine Orientierung mehr. Deshalb fragen die Jünger nach den
Anzeichen für das bevorstehende Ende dieser Welt (des »Ich«). (4)
Vielleicht denken die Jünger bei ihrer Frage auch an ein äußerliches Ereignis,
doch Jesus zeigt ihnen gleich, daß es um eine andere Dimension geht. Er warnt
sie: Wenn »der Tempel« nicht mehr existiert, dann zählt nur noch das
ursprünglich Menschliche, das Bewegtwerden vom Geist, aber das ist oft schwer
zu unterscheiden von Imitationen. Es gibt viele, die im Namen Jesu oder im
Namen der Menschlichkeit oder auch im Namen der Spontaneität auftreten und sie
führen viele in die Irre. (5f.) Und nocheinmal weist er daraufhin, daß es nicht
um ein äußerliches Ereignis geht:
Katastrophen, Kriege, Erdbeben, Hungersnöte deuten nicht auf das Ende, von dem
er spricht, denn diese Katastrophen gehören von je her zum Lauf der Welt. Die
Sorgen darüber bilden allerdings oft den Anfang der Wiedergeburtswehen. Sie
bieten zunächst eine Fluchtmöglichkeit. Und darin hegt eine Gefahr. Wir wissen
ja, wie leicht wir uns vor der Auseinandersetzung mit uns selbst drücken
können, indem wir uns mit den Problemen anderer beschäftigen, wie gern wir uns
anderen aufdrängen und das als »Nächstenliebe« tarnen oder gar als »Hören auf
den Geist«. Usw..
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Es braucht oft sehr lange, bis einem Menschen bewußt wird, daß die
Menschlichkeit, nach der er sucht, nichts zu tun hat mit irgendwelchen
Vorstellungen oder mit institutionalisierten Formen von »Menschlichkeit« (vgl.
dazu auch Lao-tse, Kapitel 31). (7f.)
Den Schülern Jesu aber, die die ursprüngliche Menschlichkeit, den
»Menschensohn«, bereits gefunden haben, auch ihnen stehen noch Prüfungen bevor.
Sie werden Anstoß erregen, vor Gerichte geschleppt und und in Gotteshäusern
gefoltert werden. Inmitten äußerster Unmenschlichkeit soll sich durch sie der
Geist echter Menschlichkeit zeigen. Vor Herrschern und Königen sollen sie ihn
bezeugen. (9)
Aber bevor sie sich an die Herrscher wenden, müssen sie die frohe Botschaft
»den Völkern« (der Bevölkerung) mitteilen. (10) Sie brauchen keine Angst haben,
denn sie werden geführt von diesem Geist. Auch wenn sie den Weg noch nicht
sehen können, er wird ihn ihnen rechtzeitig weisen. (11)
Aber nicht nur die Jünger Jesu, alle werden durch Leiden geprüft und geführt.
Und wer durchhält bis ans Ende, wird das Erscheinen des »Menschensohnes«
erleben. Er/sie wird zu Lebzeiten wiedergeboren werden aus dem Heiligen Geist.
(13) Durchzuhalten ist aber nicht leicht, denn die Wehen vor der Wiedergeburt
sind so schlimm, daß Brüder ihre Brüder, Väter ihre Kinder und Kinder ihre
Eltern in den Tod schicken. Weil sich die Menschen von Vorstellungen
beherrschen lassen (von »fremden Göttern«), sind sie ihrer eigenen Natur
entfremdet. Sie haben die Verbindung zum Ganzen verloren; sie sind innerlich
gespalten; und so zerstören sie gerade das, was ihnen am nächsten ist, ihr
eigenes Fleisch und Blut. Weil sie dem Schein glauben, machen sie sich und ihre
Umwelt kaputt. (12)
Das Scheusal der Zerstörung kommt also, weil die Menschen dem Ganzen des Lebens
ihr »Ich« entgegensetzen. Denn in der Welt des »Ich« geht es nicht um den
Himmel, um echtes menschliches Glück, sondern um Ansehen, Karriere, Macht,
Vergnügen mit allen Konsequenzen, die das hat. Deshalb beherrschen Sorgen das
Bewußtsein anstatt des ursprünglichen
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Vertrauens. Aber anstatt den Grund zu betrachten, werden die Schmerzen
betäubt mit allen Arten von Nervenkitzel. Das Herz wird angegriffen. Die Liebe
stirbt. Der Streß siegt. Das Scheusal der Zerstörung dringt vor an den Ort, an
dem es nicht stehen darf. Zur Zeit des Evangelisten Markus kam es in Gestalt
der Römer nach Jerusalem, heute steht es vielleicht als »Krankheit« in unserem
eigenen Körper, dem »Tempel des Heiligen Geistes«, oder als tödlicher Streit in
unserer Partnerschaft. (14a)
Wenn es einmal so weit ist, dann ist es höchste Zeit (14ff.), vor ihm die
Flucht zu ergreifen. Die Menschen, die diese Botschaft hören, sollen sich nicht
sinnlos in Streitfälle hineinziehen lassen. Daß sie »in die Berge« fliehen
sollen, bedeutet aber nicht nur »weg aus der Gefahrenzone in eine unzugängliche
Gegend«, es bedeutet vor allem: »weg aus der gewohnten Gedankenwelt, in die
Stille«. (14b)
Es ist eine Zeit höchster Not. Und es wäre gut, wenn nicht noch weitere
Erschwernisse dazukämen. (17-19) Es gibt keinen Ausweg aus dieser Bedrängnis.
Nach menschlichem Ermessen (dem »Fleisch« nach) könnte keiner gerettet werden.
Aber Gott hat diese Tage abgekürzt, weil er sich doch die Menschen als sein
Eigentum auserwählt hat, weil er ihnen doch sein Gesetz ins Herz geschrieben
hat (Jer 31, 13). (20) Aber die Menschen vermuten die Lösung nicht dort. Statt
dessen suchen sie im Äußerlichen immer hektischer nach Rezepten. Und ihr
Bedürfnis wird befriedigt. Überall und zu jeder Zeit treten Leute auf, die
sagen: »Hier ist die Erlösung« oder »dort ist sie«. Und diese Politiker, Prediger
und Therapeuten werden teilweise wunderbare Erfolge erzielen mit ihren Methoden
- aber es sind Erfolge im Sinn der alten »Ich«-Welt, die nun untergeht (21 f.).
Dann wird sich die Sonne verfinstern, der Mond wird nicht mehr scheinen, die
Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert
werden. Die Welt unseres »Ich« ist am Ende. Wir haben keine Orientierung mehr.
Die Illusionen verblassen. Die Dinge, die wir bisher
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für erstrebenswert gehalten haben, werden uninteressant. Unsere Vorbilder
leuchten nicht mehr. Unsere Sterne, die »Stars«, fallen vom Himmel. Alles was
uns bisher Kraft gegeben hat, was wir bisher für den Himmel gehalten haben, es
motiviert uns nicht mehr. Unser »Ich«, d.h. alles, womit wir uns bisher identifiziert
haben, zerbricht. (24f).
Und damit sind wir bereit für den entscheidenden Wandel. Denn jetzt, wo unsere
Welt am Ende ist, erscheint »der Menschensohn«, unsere gottebenbildliche,
menschliche Natur, — »in Wolken«.
Zuvor war alles klar gewesen. Unsere Welt war logisch geordnet, wir konnten
vorherberechnen, was wir zu tun hatten. Aber jetzt wissen wir nichts mehr im
Voraus. Unsere Zukunft liegt im Dunkeln. Und genau da, im Unklaren, im Nebel,
in Wolken erscheint - unser menschliches Wesen, unsere Originalität. (26)
Die Orientierung an den vielen klaren Daten unserer Welt hat unsere
Originalität verletzt und uns verstümmelt - bis wir weder aus noch ein wußten.
Und da waren wir dann bereit, uns wieder an dem einen, geahnten Ganzen zu
orientieren. Und so sammelt sich jetzt das Ganze unserer zuvor zersplitterten
Lebenskraft (27) und erscheint »mit großer Macht und Herrlichkeit«. (26)
Jesus zitiert den Propheten Daniel, der den »Menschensohn« kommen sieht »mit
den Wolken des Himmels« (Dan 7,13f). Er kommt von selbst! Auch Jesaja sieht es
so. »Tauet Himmel den Gerechten, Wolken regnet ihn herab!«, ruft er (Jes 45,8)
und Jesus antwortet: Wenn unsere Welt am Ende ist, dann kommt er. Aber
eigentlich ist er immer schon da! Immer schon »sprießt die Wahrheit aus der
Erde hervor« (Ps 85, 11) - nur: Wir können sie erst sehen, wenn uns nichts mehr
ablenkt, wenn »die fremden Götter« mit unserer Welt untergegangen sind, wenn
auch keine Vorstellungen mehr da sind, sondern nur noch der Menschensohn.
Und: (30) »Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles eintrifft«.
Jesus hat nicht irrtümlich angenommen wie manche Theologen tatsächlich meinen ,
daß die Erde noch während der Le-
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benszeit seiner Zuhörer zerstört werden wird, sondern: »diese Generation«
hat das Ende ihrer Welt damals erlebt und unsere Generation erlebt es heute. Es
geht Jesus nicht um das Ende des Planeten - sonst wäre seine Rede ja nur an
eine einzige Generation gerichtet - sondern das Welt-Ende, von dem er spricht,
ist das Ende unserer Vorstellungs-Welt! Die Vorstellungen sind es ja, die uns
separieren vom Geist des Ganzen, aber sie werden zerbrechen an der
Wirklichkeit. (30)
Und dann erscheint das ursprünglich Menschliche, »der Sohn des Menschen«. »Er«
erscheint in jeder Generation und in jedem einzelnen Menschen spätestens am
Lebensende mit Macht. (26 + 30)
Wenn »er« erscheint, wird der Mensch ein wirkliches »Ebenbild Gottes«.
Natürlich ist »er« immer schon da, in jedem Menschen, aber seine Stimme ist
verdeckt durch den Sündenfall, durch die Vorstellungen. Trotzdem bleibt »er«
fortwährend der tatsächliche Herr des Menschen. »Sein« »Wort« ist immer
Realität. »Er« erfaßt zu jeder Zeit die volle Wahrheit der gegenwärtigen
Situation. Das Kalkül des »Ich« dagegen verfügt nur über die Daten vom Baum der
Erkenntnis. Es kann sich nur stützen auf die Durchschnittswerte der
veränderlichen äußerlichen Erscheinungen. Aber die Daten von »Himmel und Erde
werden ständig überholt« und deshalb können sie der Wahrheit des Augenblicks
kaum je völlig gerecht werden. (31)
Es ist gut, die Zeichen zu sehen (28f), aber es ist nicht möglich die
Wiedergeburt aus dem Geist absichtlich herzustellen. Das wäre ja ein Handeln
vom Baum der Erkenntnis her (vgl. auch Rom 10, 6f). Die Wiedergeburt aus dem
Geist aber unterliegt keiner Willkür. Sie ist ein Geheimnis der Lebenskraft. Es
gibt eine natürliche Sehnsucht nach ihr und daß sie kommt, entspricht der
natürlichen Entwicklung - denn das echt Menschliche möchte sich manifestieren.
Doch niemand kennt den Tag oder die Stunde, niemand kann sie berechnen,
nichteinmal einer, der bereits wiedergeboren ist, also nichteinmal ein
Erlöster, ja nichteinmal ein Erlöser. (32)
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Wir können nur eines tun: Wachsam sein und uns bereit machen. (33)
Und damit beschließt der Evangelist Markus seine Version der Rede Jesu über die
Endzeit.
Diese Rede enthält den Schlüssel zu unserer
Neugeburt aus dem Geist. Entscheidend dafür ist, daß wir ihren Inhalt in
unserem eigenen Leben wiedererkennen. Deshalb lassen wir ihn in der folgenden
Meditation noch einmal auf uns wirken:
Meditation
Nicht alle lassen sich vom Tod Jesu berühren, aber alle müssen das Ende
ihrer Welt erfahren, bevor sie den Erlöser sehen können. Und für manche muß
dieses Ende schon sehr drastisch kommen, damit sie begreifen.
Falls du den Abschnitt darüber nicht eben erst gelesen hast, lies die Rede Jesu
über die Endzeit jetzt noch einmal (Markus, Kapitel 13).
Dann laß Ruhe einkehren bei dir, indem du für eine Weile nur deinen Atem beobachtest, wie er ein- und ausströmt. Und wenn du zur Ruhe gekommen bist, laß dich ein auf den Inhalt dieser großen Rede:
Du hast selbst schon oft erlebt, daß du deine Vorstellungswelt für »die Welt« hältst und die Wirklichkeit daher nicht zu dir durchdringen kann. Diese Welt muß an ihr Ende kommen. Dann erst kannst du wirklich wahrnehmen. Und dann wirst du das ursprünglich Menschliche in dir entdecken, deine göttliche Natur, den Menschensohn. Das sagt Jesus in dieser Rede. Und dann zeigt er in drastischen Bildern, was geschieht, wenn du deine Vorstellungen nicht losläßt und daß du am Ende doch keine Wahl haben wirst, weil deine ganze Welt buchstäblich aus den Angeln fällt. Sieh jetzt die Jünger, die Jesus auf die Größe und Stabilität des Tempels hinweisen, und Jesus, der ihnen zeigt, wie trügerisch dieser äußere Schein ist.
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Schau dabei auf deine eigenen Tempelmauern, auf deine »heiligen Kühe«, auf
all das Äußerliche, mit dem du deinen Weg zementiert hast. All das mußt du
loslassen, wenn du deine Auferstehung erleben willst. Und Jesus sagt ausdrücklich,
daß das möglich ist, daß du deine Auferstehung noch vor deinem Lebensende
erfahren kannst: »Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles
eintrifft.«
Also schau jetzt noch einmal die Mauern an, die du aufgerichtet hast - und laß
sie los!
Und dann schau, wo du deine Orientierung suchst. Viele möchten dir nicht helfen
loszulassen. Sogar im Namen Jesu wollen sie dich in Schemen pressen und dich
weiter einmauern. Sieh aber auch den Menschensohn, wie er dich zu sich kommen
läßt, frei und genau so wie du ursprünglich bist.
Und dann schau, wie gern du dich durch Katastrophenmeldungen beunruhigen läßt,
wie sie es dir ersparen deine eigenen Katastrophen zu sehen.
Aber sogar wenn du den Weg schon gefunden hast. Wird er sich bewähren, wenn
eine wirkliche Probe kommt? Versetze dich hinein in die Szene, die Jesus
beschreibt, laß dich im Geist verhaftet und gefoltert werden, weil du die
Wahrheit lebst. Und sieh das Vertrauen, das dich selbst da befähigt, sorglos zu
bleiben, weil du weißt, daß der Geist dir das Richtige zur rechten Zeit
eingeben wird.
Aber vielleicht bist du auf deinem Weg noch nicht so weit, vielleicht ist es
sogar so, daß du dich wegen deiner Vorstellungen von großem Unheil bedroht
siehst, sei es in Form einer Krankheit, einer Beziehungskrise, eines
Mißerfolgs. Dann geh jetzt nicht noch etwas erledigen, sondern komme zur Ruhe.
Erhebe dich auf eine andere Ebene. Nimm, was du gerade erfahren hast, als einen
Fingerzeig des Menschensohnes. Stell dir vor, er ist bereits in dir erwacht.
Spüre ihn in dir. Er ist doch schon da. Spüre die Ruhe, die von ihm ausstrahlt,
die Zuversicht, die Geborgenheit und verweile darin. Mache dich vertraut mit
dieser Erfahrung. Und dann, aus deiner neuen Zuver-
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sicht und Geborgenheit heraus, schau, wie du als der bereits Erlöste, dein
Leben aus dieser Krise herausführen möchtest. Und wenn du im Moment zu
aufgeregt bist, um zur Ruhe zu kommen, dann »bete«, also sieh dir deine
Wahrheit (deine Aufregung) jetzt an. Drücke sie aus. Und wenn du befürchtest,
es könnte ein großer Ausbruch werden, dann bereite dir zuvor einen sicheren
Rahmen. Wie das geht, kannst du in den Übungen zum Thema »Pfingsten« nachlesen.
Laß dich in dieser Situation auch nicht von irgendwelchen Wunderpropheten
ablenken, die dir nur sich selbst verschreiben wollen. Denn der Himmel ist
nicht irgendwoanders, er ist in dir und da wird er erscheinen, wenn du bei der
Wahrheit bleibst.
Alle äußeren Wegweiser (Sonne, Mond und Sterne, Tageslicht, Träume und Stars)
werden schließlich ihre Bedeutung verlieren. Sieh dir deine Wegweiser an und
laß sie los — und seien sie noch so heilig. »Triffst du Buddha unterwegs, töte
ihn!«, denn solange du glaubst, du müßtest so werden wie ein anderer oder du
müßtest einem bestimmten Bild entsprechen, bist du noch nicht bereit für die
Wahrheit. Geh daher hinein in die Wolke deines Nichtwissens. Wage es, das nicht
vorher Wissen auszuhalten, jetzt. Dann wirst du in dieser Wolke deiner eigenen
göttlichen Natur begegnen, dem Menschensohn. Und sie wird sich zeigen mit
großer Macht und Herrlichkeit. Wenn du aber an deinen Vorstellungen festhältst,
wird dich diese Macht erschrecken. Sieh nun auch die Engel, die von deiner
eigenen göttlichen Natur ausgesandt werden: Du hängst in einem Netz von
Kraftlinien, durch das du mit allem verbunden bist. Und durch diese Verbindung
kommt dir immer zur rechten Zeit alles Nötige zu. Schau zurück in dein Leben
und sieh, wie es geschieht. Woimmer du gerade stehst in diesem Prozeß, sei
achtsam auf die Wahrheit, die du in diesem Moment erfährst. Darin liegt der
Schlüssel für den weiteren Weg.
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Und in dieser Achtsamkeit richte deine
Aufmerksamkeit jetzt wieder auf deinen Atem. Sieh in ihm die Wolke des
Nichtwissens, in der du vertrauensvoll verweilen darfst. Und im Ein- und
Ausströmen deines Atems spüre die Kraftlinien, die dich mit allem verbinden,
und im Rhythmus deines Atems folge ihnen hinaus und wieder zurück.
Das Weltgericht
(Mt 25,31-46):
31 Wenn der Sohn des Menschen aber kommt
in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm,
dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen.
32 Und alle Völker werden vor ihm zusammengeführt werden,
und er wird sie voneinander scheiden,
wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet.
33 Und er wird die Schafe an seine Rechte stellen, die Böcke aber an die Linke.
34 Dann wird der König denen an seiner Rechten sagen:
Auf, Gesegnete meines Vaters! Nehmt den Anteil am Reich,
der seit Grundlegung der Welt für euch bereit ist.
35 Denn ich hungerte, und ihr gabt mir zu essen;
ich dürstete, und ihr tränktet mich;
ich war fremd, und ihr brachtet mich in Kontakt;
36 nackt, und ihr bekleidetet mich;
ich war krank, und ihr schautet auf mich,
ich war im Gefängnis, und ihr kamt zu mir.
37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr,
wann sahen wir dich hungrig und speisten dich,
oder durstig und tränkten dich?
38 Und wann sahen wir dich fremd und brachten dich in Kontakt,
oder nackt und bekleideten dich?
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39 Und wann sahen wir dich krank oder im Gefängnis,
und wir kamen zu dir?
40 Und der König wird antworten und ihnen sagen:
Amen, ich sage euch:
Indem ihr einem dieser meiner geringsten Brüder etwas tatet,
tatet ihr es mir.
41 Dann wird er auch zu denen zur Linken sagen:
Geht weg von mir. Verfluchte, in das ewige Feuer,
das für den Lügner (Diabolos, Teufel) und seine Boten bereitet ist!
42 Denn ich hungerte, und ihr gabt mir nicht zu essen ...
44 Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr!
Wann sahen wir dich hungrig oder durstig
oder fremd oder nackt oder krank oder im Gefängnis
und wir dienten dir nicht?
45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Amen, ich sage euch:
Indem ihr einem dieser Geringsten etwas nicht tatet,
tatet ihr es auch mir nicht.
46 Und diese werden weggehen zu ewiger Verdammung,
die Gerechten aber zum ewigen Leben.
Eine dramatische Szene! Wären wir nur nicht so befangen in unserem
materialistischen Verständnis von allem und jedem, dann hätten wir einen
natürlichen Zugang zu dieser Sprache - es ist immerhin die Sprache unserer
eigenen Träume!
Die Tradition nennt das »Ereignis«, von dem Jesus hier spricht, »Jüngstes
Gericht«, weil es das letzte Ereignis in der Zeit ist.
Zwar hört nicht die Zeit an sich auf, wenn der »Menschensohn« erscheint - sonst
könnte das ja nicht zu Lebzeiten geschehen - aber der Mensch tritt ein in die
Sphäre des Ewigen, und in ihr ist alles, was ist und war und sein wird,
gegenwärtig und die Zeit spielt keine beherrschende Rolle mehr.
Wenn die Sphäre der Zeit also ihre Bedeutung verliert, »werden alle Völker vor
ihm zusammengeführt werden«.
Tatsächlich kennen alle Völker und alle Religionen das Erschei-
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nen des »Menschensohnes« am Ende der Zeit auf ihre Weise. Alle Menschen
streben ja nach Menschwerdung! Und so ist auch das, was da »in Herrlichkeit« erscheint,
nicht der Jesus von damals, sondern das menschliche Wesen, unser eigener
göttlicher Kern, der sich immer schon zeigen möchte: im Geist der Kindschaft,
im Geist der Hingabe und, zu gewissen Zeiten, als Richter.
Und der Richter sieht, wie weit wir noch entfernt sind von unserer
Menschlichkeit. Und als Resonanz auf seine Sicht spüren wir den im Ewigen immer
schon gegenwärtigen Schmerz über unsere Trennung - unsere Ver-dammung. Und wenn
wir unsere Menschlichkeit nicht schon zuvor entwickelt haben, macht uns jetzt
vielleicht die unausweichliche Erfahrung der Verdammung bereit für die
Wiedergeburt aus dem Geist.
Es geht Jesus nicht um dogmatische Definitionen und genausowenig will er »das
erste Ereignis des Lebens nach dem Tod« beschreiben. Er will einfach mit den
Ausdrucksmöglichkeiten seiner Kultur bei seinen Zuhörern eine Wirkung erzielen.
Er will ihnen helfen, ihre gegenwärtige Verdammung aufzuheben, damit sie nicht
in diesem Zustand weiterleben müssen, und damit sie sich zum Wesentlichen
hinwenden können.
Erinnern wir uns an die Auferstehungserlebnisse der Schüler Jesu. Der Prozeß,
den sie durchgemacht haben, bevor sie das Menschliche erkennen konnten,
ereignet sich irgendwann für jeden Menschen: Spätestens im Tod tritt die ewige
Natur ja für jeden offen zutage: Und die, die ihr schon bisher gefolgt sind,
werden selig sein, die sie aber verleugnet haben, werden entsetzt sein. Das
Gericht kommt in Form einer existentiellen Krise. In ihr werden uns mit einem
Mal alle Zeichen und Hinweise klar, die uns der göttliche Geist immer schon
gegeben hat, denn ganz unspektakulär sind uns seine Boten (Engel) ja oft und
oft begegnet. Sie haben versucht, uns aufmerksam zu machen auf jene andere
Dimension jenseits unserer »Ich«-Welt und unserer Vorstellungen. Vielleicht
haben wir diese Hinweise lange ignoriert, wie damals der Prophet Jona, aber
eines Tages (am »jüngsten« Tag) können wir nicht länger ausweichen, da stehen
wir an der Schwelle zum
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Ewigen und »der Menschensohn« zeigt sich dann unverhüllt, mit allen Insignien
seiner Macht. Das Gericht (die Krise) ist von »ihm« inszeniert, um unser Leben
abzuwenden vom Schein und auszurichten auf die Wahrheit — in der »der
Menschensohn« unser Herr ist weil er unsere eigene menschliche Natur ist.
Menschen, die ihrem Tod sehr nahe gekommen sind, bestätigen das. Sie sagen, an
der Schwelle zum Tod seien sie einer Art »Licht-Wesen« begegnet und das habe
sie aufgefordert, ihr vergangenes Lebens nochmals zu betrachten und zu
beurteilen. Und dieses »Licht-Wesen« habe erstaunliches Verständnis gezeigt,
selbst für allerschlimmste Taten. Und diese Begegnung habe ihrem Leben eine
völlig neue, ganz und gar menschliche Richtung gegeben. Wir wundem uns nicht
darüber und auch nicht über das Verständnis des Richters. »Der Menschensohn« ist
ja kein Außenstehender! Er versteht unsere Verweigerung. Und doch zeigt sich
von seiner Sicht aus aller Trotz, aller Eigensinn, alles Sorgen, alle Gier als
verloren.
Nur das Echte zählt: absichtlose Bewegung in Übereinstimmung mit dem Geist. Nur
so können wir alles nehmen und alles geben. Und nur so sind wir wirklich
menschlich (»Ich war hungrig und ihr gabt mir zu essen ...«). Wir wußten es
immer schon, denn nur so sind wir auch glücklich, nur so vergessen wir die
Zeit, nur so erleben wir die Ewigkeit im Jetzt.
Was uns davon abbringt, sind immer die Früchte vom Baum der Erkenntnis, unsere
Vor-urteile über »gut« und »schlecht«.
Andererseits ist aber auch der Sündenfall ganz natürlich für uns Menschen. Er
enthält die Herausforderung, uns während unserer Reise durch die Zeit unserer
wirklichen Natur bewußt zu werden und das Ebenbild Gottes in uns zur Entfaltung
zu bringen. Deshalb läßt uns der »Menschensohn« das Gericht und »das Feuer, das
für den Lügner und seine Boten von Ewigkeit her bereitet ist«, nicht erst nach
dem Tod erfahren, sondern immer wieder schon im Leben. Und nur wenn jemand
seine menschlichen Regungen trotzdem bis ans Lebensende unterdrückt, hat er das
ganze Leben versäumt und dann kann ihm das nur ewig leid tun.
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Aber auch die Tatsache, daß manche anscheinend wirklich zeitlebens ihre
Menschlichkeit nicht finden, berechtigt uns nicht zu der Schlußfolgerung, sie
wären für immer verloren. Im Gegenteil, das Gleichnis Jesu über die Arbeiter im
Weinberg (Mt 20, 1-16) weist klar auf ihre Chance hin und es weist alle jene
zurück, die den »Letzten« die Erlösung nicht gönnen.
Das »jüngste Gericht«, vor dem alle Völker erscheinen müssen, ist also nicht
ein Ereignis, das der Zerstörung dieses Planeten folgt, es ist das
entscheidende Ereignis unseres Lebens, denn es leitet unsere Wiedergeburt aus
dem Geist ein. Und als dieses entscheidende Ereignis in unserem Leben
betrachten wir es noch einmal in der folgenden Meditation.
Meditation
Immer wieder beurteilst du deine eigenen Taten und oft hilft dir dein Urteil nicht, dich so zu verändern, wie du es dir wünscht. Du weißt aber von den Berichten derer, die ihrem Tod sehr nahe waren, daß auch ihre Taten beurteilt worden sind. Und sie sagen, dieses Urteil habe eine große Veränderung in ihrem Leben möglich gemacht. Versuche jetzt also dein Leben und deine Taten von dieser anderen Warte aus zu betrachten.
Zuvor jedoch werde innerlich ganz ruhig, indem du wieder auf deinen Atem achtest. Verweile dabei, bis du die Ruhe in deinem ganzen Körper spürst. Dann erlebe dein Jüngstes Gericht.
Erinnere dich jetzt an all das, was wirklich gut ist in deinem Leben, was
wirklich Bestand hat, auch von der Warte des Menschensohnes aus.
»Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben ...«. Das heißt alles, was
du aus echtem Mitgefühl getan hast. Erinnere dich an die Situationen, in denen
dein Denken nicht im Weg war, wo du unmittelbare Resonanz gespürt hast. Und
präge dir die Bewußtseinsebene gut ein, auf der du dabei warst.
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Und dann schau auf das, was keinen Bestand hat. Und achte darauf, daß du
auch die Taten, in denen das Mitgefühl gefehlt hat, jetzt mit Mitgefühl
betrachtest, mit dem wohlwollenden Blick des Menschensohnes, der nicht
verurteilt, sondern versteht. Versteh nun also dich selbst und sieh die Angst und
die Verletzungen, derentwegen du dich verhärtest hast. Und laß dann alles los,
womit du dich je belastet hast. Es ist wie Spreu, die der Windhauch des
Heiligen Geistes jetzt davonträgt und die in seinem Feuer verglüht.
Und dann schau auf den Menschensohn in dir, der immer mit offenen Armen
dasteht, um alle zu empfangen, die mühselig und beladen sind. Komm zu ihm und
laß dich von ihm erneuern. Sieh dich selbst als den verlorenen Sohn / die
verlorene Tochter, der/die nun endlich den Mut gefunden hat, die Wahrheit
anzusehen und umzukehren, und der/die mit offenen Armen empfangen wird.
Achte nun wieder auf deinen Atem, wie er ganz
von selber eingeht und wieder hinausgeht, und spüre in diesem von selbst
gehenden Atem die Geborgenheit des Sohnes / der Tochter, der/die heimgefunden
hat.
Der »Menschensohn« öffnet uns
den Himmel
(Mt 16, l - 4. 21 - 28; 17, l - 9; Joh 5,25 - 30)
Die Zeichen auf dem Weg in den Himmel - das Zeichen des Jona (Mt 16, 1-4)
Die religiösen Führer des jüdischen Volkes konnten den »Menschensohn« in Jesus nicht sehen und daher auch nicht, daß Jesus eins war mit dem Vater. Und weil sie das Echte nicht wahrnehmen konnten, verlangten sie äußerliche Beweise:
1 Und die Pharisäer und Sadduzäer kamen zu ihm,
um ihn auf die Probe zu stellen.
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Sie verlangten von ihm,
daß er ihnen ein Zeichen aus dem Himmel zeige.
2 Der aber antwortete und sprach zu ihnen:
4 Eine böse und treulose Generation fordert ein Zeichen,
aber ein Zeichen wird ihr nicht gegeben werden,
außer dem Zeichen des Jona.
Und er ließ sie stehen und ging weg.
Der Prophet Jona sollte den Bewohnern der Stadt Ninive zeigen, daß sie
verkehrt lebten. Aber Jona hatte Angst dort hinzugehen, denn Ninive war eine
ultramoderne Stadt und ihre Bewohner waren hoch kultiviert und gebildet.
Dagegen kam er sich vor wie ein Nichts. Deshalb widersetzte er sich dem Druck
des göttlichen Geists, den er in sich spürte. Er unternahm alles, um zu
vergessen, aber es nützte nichts. Schließlich wußte er sich nicht mehr anders
zu helfen als durch Flucht.
Um ganz sicher zu gehen, buchte Jona eine Schiffsreise in die entgegengesetzte
Richtung. Und da geschah das Unglück: Ein Sturm kam auf und das Schiff geriet
in Seenot. Man suchte nach dem Schuldigen und kam schließlich auf Jona.
Schuldbewußt bot er der Mannschaft an, ihn über Bord zu werfen und sich dadurch
zu retten. Und in dem Moment, als er über Bord war, hörte der Sturm auf. Jona
aber wurde von einem Fisch geschluckt. In tiefster Verzweiflung schrie er zu
Gott und der Fisch erbrach ihn und spuckte ihn an Land — genau vor Ninive. Und
jetzt war Jona bereit, dem göttlichen Geist zu folgen.
Jona wußte, was er zu tun hatte, aber er tat es nicht. Auch die, die Jesus um
ein Zeichen baten, wußten, was sie zu tun hatten, aber sie taten es nicht. Und
Jesus wies sie daraufhin, daß es letztlich nicht möglich ist, sich der
göttlichen Führung zu entziehen. Was Jona erlebte, ist das, was alle Menschen
erleben: Wenn sie der Stimme ihrer Natur — der Stimme des »Menschensohnes« —
nicht folgen, erzeugen sie für sich eine qualvolle Situation, die sie dazu
drängt, auf den Weg der Wahrheit zurückzukehren: das »Fegefeuer«.
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Solange ein Mensch am Leben ist, hat er, wie Jona, die Chance aus seinem
Schicksal zu lernen. Aber natürlich kann er erst umkehren, wenn er die Zeichen
der Zeit erkennt.
Jesus kündigt sein Leiden an (Mt 16, 21)
Von da an begann Jesus, seinen Jungem zu zeigen, daß er nach Jerusalem gehen müsse und vieles erleiden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tag erweckt werden.
Jesus sieht, was jetzt nötig ist. Er urteilt nicht »gut« oder »schlecht«. Er
weiß, daß es im Leben etwas Wichtigeres gibt als das Leben, nämlich dem
göttlichen Geist zu folgen. Seine Schüler können das nicht fassen. Deshalb muß
er es ihnen zeigen. Und jetzt ist der Zeitpunkt dafür gekommen: Er muß sterben,
damit sie das Leben begreifen. Nur sein Tod kann die Welt ihrer Konzepte so
erschüttern, daß die Wahrheit Platz finden kann. Und wenn ihre Welt zerbrochen
ist, wird er in ihnen erweckt werden!
Das sind die Gründe, die unsere Vernunft im Nachhinein findet, aber Jesus wird
nicht von Gründen bewegt, sondern allein vom Geist.
Menschliche Einwände (Mt 16, 22f.)
22 Und Petrus riß ihn heran und begann ihn anzufahren, indem er sagte:
Gnade dir, Herr! Niemals soll das mit dir geschehen!
23 Der aber wandte sich um und sprach zu Petrus:
Weg mit dir, Satan, mir aus den Augen!
Du willst mich zu Fall bringen;
denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will,
sondern was die Menschen wollen.
Petrus geht aus vom gewohnten »menschlichen« Denken, von der Unterscheidung von »gut« und »schlecht«, die ihm sagt: Der
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Tod ist schlecht, er muß vermieden werden. Petrus sieht noch nicht, woher die
Kraft kommt, die Jesus hat: daß seine Entscheidungen nicht aus dem Denken
stammen, sondern aus einer tieferen Wahrheit. Petrus argumentiert. Deshalb wird
er für Jesus zum Versucher, zum Satan.
Was Jesus wahrnimmt, ist nicht vermittelt durch Urteile. Er spürt die Wahrheit
unmittelbar, denn er ist eins in sich selbst. Deshalb ist er »der
Menschensohn«, der archetypische Mensch, das vollkommene Ebenbild Gottes. Und
so wie er sollen auch seine Schüler werden. Deshalb muß er Petrus so scharf
zurechtweisen.
Die Voraussetzungen für das Erscheinen des Menschensohnes
(Mt 16,24-26):
24 Da sprach Jesus zu seinen Schülern:
Wenn einer nach mir geraten will, dann verleugne er sich
und er trage sein Kreuz und folge mir.
25 Denn wer etwa sein Leben retten will, er wird es verlieren;
wer immer aber sein Leben hingeben wird wegen mir,
er wird es finden.
26 Denn was wird es einem Menschen nützen,
wenn er die ganze Welt gewinnt,
wenn sein Leben dabei Schaden nimmt?
Oder was wird ein Mensch bezahlen als Preis für sein Leben?
Woher kommt es, daß Menschen sich kaputt machen für ein wenig Gewinn? Es
kommt von ihren Vorstellungen darüber, was »gut« ist.
Alle Vorstellungen über »gut« und »schlecht« zusammen bilden das »Ich«. Die
Lösung liegt daher im Loslassen des »Ich«, in der »Selbstverleugnung«.
»Selbstverleugnung« heißt, die Vorstellungen darüber ablegen, wie wir sind und
wie »es« sein sollte. »Das Kreuz auf sich nehmen« heißt, die Ursünde aufgeben,
nicht mehr unterscheiden zwischen »gut« und »schlecht«, das Unangenehme nicht
mehr ablehnen, sich nicht mehr aus Angst zurückhalten, sondern vertrauen.
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Nur wer sein Schicksal annimmt, kann werden wie Jesus, denn er versucht dann
nicht mehr, sein Leben zu bewahren, sondern er lebt es so, wie es kommt, ohne
zu wählen.
Und da entdeckt er sich selbst als Sproß des ewigen Lebens.
Der Menschensohn kommt in der Herrlichkeit des Vaters (Mt 16, 21)
Ziel der menschlichen Entwicklung ist es, sich ganz von fixen Vorstellungen
zu lösen und eins zu werden mit dem Geist, wie Jesus. Aber die Menschen können
sich nicht selbst erlösen. Das »Ich«, aus dem ja alles »Tun« kommt, kann sich
nicht selbst aufgeben. Die Natur muß dem Menschen zu Hilfe kommen und das
geschieht auch.
Die Wahrheit selbst zerreißt das so fest geglaubte Weltbild und dahinter
erscheint der Mensch in seiner wahren Stellung im All — als Ebenbild Gottes:
Der Sohn des Menschen wird kommen
in der Hoheit seines Vaters mit seinen Engeln
und dann wird er vergelten, jedem nach seinem Tun.
Besonders in den Krisenzeiten unseres Lebens wird unser »Ich« mit unserer
menschlichen Natur konfrontiert. Da kommt der »Menschensohn«! Er drängt uns,
unsere Vorstellungen loszulassen, weil sie unsere Entfaltung behindern. Unsere
Natur zwingt uns nicht, aber wenn wir uns nicht irgendwann freiwillig besinnen,
zwingen uns die äußeren Umstände, wie sie Jona gezwungen haben oder wie sie die
Ägypter gezwungen haben vor dem Auszug der Israeliten. Diese Umstände sind dann
die »Engel« des Menschensohnes, seine Boten. Sie waren immer schon da, um uns
unserer Natur gemäß zu führen; und jetzt kommen sie als Zeugen und Vollstrecker
unseres Gerichts.
Und, je nach dem, wie weit wir ihnen bisher gefolgt sind, fällt es uns dann
leichter oder schwerer, unsere Vorstellungswelt loszulassen und unserer
Originalität zu erlauben, zu erscheinen.
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Das Gericht, das Jesus hier beschreibt, ist ein Ereignis unseres Lebens, das
uns korrigieren, »richten«, soll, denn — wenn wir auch im Tod noch an unserer
»Ich«-Welt festhalten, bleibt unsere Ver-damm-ung aufrecht und unser Ende wird
bitter sein.
Die Auferstehung zu Lebzeiten (Mt 16, 28)
Amen, ich sage euch:
Einige von denen, die hier stehen,
werden den Tod sicher nicht kosten,
bis sie den Sohn des Menschen eintreten sehen
in seine Herrschaft.
Viele Theologen meinen, Jesus habe sich hier geirrt, seine »Naherwartung«
habe sich offensichtlich nicht erfüllt, die neue Welt lasse immer noch auf sich
warten. Wir haben jedoch bereits gesehen, daß die Herrschaft des Menschensohnes
und das Reich Gottes nicht etwas Äußerliches sind.
Einige von den Zuhörern Jesu haben das »Jüngste Gericht« damals wirklich
erlebt. Sie haben zu Lebzeiten erfahren, wie der »Menschensohn« in ihnen die
Herrschaft der Vorurteile abgelöst hat. Und seither haben es Menschen aus allen
Generationen erlebt und es geschieht immer noch.
Jesus ist nicht der Begründer einer Religion für die Verstorbenen. Es geht ihm
darum, daß die Menschen während dieses Lebens entdecken, daß ihre
Hartnäckigkeit, ihr Beharren auf ihrem »Ich« und auf der Ablehnung des Leidens,
der wirkliche Tod ist, und daß sie erst durch den Tod ihres eigensinnigen »Ich«
zum wahren und ewigen Leben erwachen können. Und er zeigt ihnen, daß die Hilfe,
die sie brauchen, schon da ist:
»Der, den du suchst, ist es, der sucht!«, sagt der heilige Franziskus. Der
Menschensohn in uns macht uns suchen, damit wir bereit werden für seine
Rückkehr an die Stelle, die ihm von Anfang an zukommt.
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Unsere eigene menschliche Natur erzeugt die Krise, die unsere »Ich«-Welt
zerstört, denn am Ende kann die Wahrheit nicht verborgen bleiben. Irgendwann
muß sich der »Menschensohn« als der eigentliche Herr unseres Lebens zeigen. Und
dann können nicht wir weiter die Herren sein. Wenn wir aber sterben, bevor wir
sterben, dann werden wir schon zu Lebzeiten neue Menschen und das Paradies ist
wieder da.
Jesus - der zu Lebzeiten Auferstandene (Mt 17, 1—9)
1 Sechs Tage darauf nimmt Jesus den Petrus mit
und Jakobus und dessen Bruder Johannes
und er führt sie für sich auf einen hohen Berg.
2 Und er wurde vor ihnen verwandelt;
und sein Gesicht leuchtete wie die Sonne,
und seine Kleider wurden blendend weiß wie das Licht.
3 Und sieh! Mose erschien ihnen und Elia und sie redeten mit ihm.
4 Petrus aber antwortete und sprach zu Jesus:
Herr, es ist gut, daß wir hier sind.
Wenn du willst, werde ich hier drei Zelte machen,
dir eines, Mose eines und Elia eines.
5 Während er noch redet, sieh,
eine leuchtende Wolke überschattete sie,
und sieh, eine Stimme aus der Wolke sagte:
Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen fand;
hört auf ihn!
6 Als sie das hörten, warfen sich die Schüler auf ihr Gesicht
und fürchteten sich sehr
7 Und Jesus kam zu ihnen, berührte sie und sprach:
Steht auf und fürchtet euch nicht!
8 Und als sie aufblickten, sahen sie keinen außer ihn, Jesus allein.
9 Und während sie vom Berg herabstiegen, gebot ihnen Jesus:
Sprecht zu keinem von dem, was ihr gesehen habt,
bis der Sohn des Menschen aus Toten erweckt ist.
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Sechs Tage läßt Jesus seine Rede über das Erscheinen des Menschensohns
wirken, dann zeigt er seinen engsten Vertrauten die sonst verborgenen
Dimensionen des zu Lebzeiten Erwachten. Für die Augen des »Ich« ist der wahre
Umfang des Lebensbereichs Jesu verborgen. Nur unter besonderen Umständen ist es
daher einigen Auserwählten möglich, die ganze Reichweite der menschlichen Natur
und ihr göttliches Leuchten wahrzunehmen. Die drei Apostel sind so weit. Sie
sind bereit für eine Wesensschau. Und da sehen sie, daß Jesus auf der gleichen
Stufe steht wie Mose und Elia.
Aber sie verwechseln die Realitätsebenen und meinen, ein Ereignis ihrer
alltäglichen Wirklichkeit zu sehen. Sie fühlen sich wohl in der Gesellschaft
der Propheten und in der Atmosphäre von Wahrheit und von Menschlichkeit, die
sie umgibt. Deshalb wollen sie sich niederlassen und drei Zelte aufstellen.
Dann merken sie die andere Dimension, die Gegenwart des Göttlichen; deshalb
werfen sie sich zu Boden. Aber auch jetzt können sie ihre Einsicht noch nicht
direkt beschreiben; es ist für sie eine Stimme aus einer anderen Welt, die
ihnen noch fremd ist. Und weil sie das Göttliche in sich selbst noch nicht
wahrnehmen können, könnten sie nur ein Mißverständnis weitergeben. Und so
gebietet ihnen Jesus, Stillschweigen zu bewahren über das Erlebnis bis »der
Menschensohn« auch in ihnen geweckt ist, d.h. bis ihre eigene menschliche Natur
die illusionäre Welt zerbricht, die sie noch trennt von ihrem Kern, vom Vater,
vom Himmel, vom ewigen Leben.
Das Gericht und die Wiedergeburt beim Evangelisten Johannes
(Joh 5, 25-30)
24 Amen, amen, ich sage euch:
Es kommt eine Stunde, und jetzt ist sie da,
wo die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden;
und die sie hören, werden leben.
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26 Denn wie der Vater Leben in sich hat, so gab er auch dem Sohn,
Leben in sich zu haben.
27 Und er gab ihm Vollmacht, Gericht zu halten,
weil er Menschensohn ist.
28 Wundert euch nicht darüber, daß eine Stunde kommt,
in der alle in den Gräbern seine Stimme hören werden;
29 und herauskommen werden,
die das Gute (Taugliche) taten, zum Erwachen des Lebens,
die das Schlechte (Faule) taten, zum Erwachen des Gerichts.
30 Von mir selbst aus kann ich nichts tun;
wie ich es höre, richte ich und mein Gericht ist gerecht,
weil ich nicht meinen Willen suche,
sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.
Die Toten, von denen hier die Rede ist, sind nicht die Leichen auf den
Friedhöfen, sondern das sind wir. Solange wir unsere Natur noch nicht
wiederentdeckt haben, sind wir getrennt vom Baum des Lebens, isoliert und
verdammt, in den Gräbern. Aber die Stimme unserer Natur dringt durch die Mauern
unserer Vorstellungen in unser Bewußtsein. Und wenn wir sie hören, stehen wir
vor dem »Menschensohn« — wie die Sterbenden vor dem »Licht-Wesen«. Konfrontiert
mit ihm, sehen wir uns selbst im Licht unseres Wesens. Alles Künstliche, alles
Ausgedachte, alles Scheinbare wird durchsichtig und wir sehen die Kräfte, die
uns veranlaßt haben, uns danach zu richten; wir sehen ihre Nichtigkeit und wir
kehren um.
Das ist das Gericht des »Menschensohnes«. Es ist einfach die Wahrheit. Er
ergreift nicht Patei für einen überirdischen Gott, der Unmenschliches verlangt.
Der »Menschensohn« ist wirklich der Menschen Sohn. Und der Jesus, der da
spricht, ist keine Privat-Person. Er spricht im Namen der menschlichen Natur,
mit der er vollkommen übereinstimmt. Gerade durch seine Menschlichkeit ist er
göttlich. Wir dagegen nennen oft gerade das Unmenschliche »menschlich«, nämlich
Trotz, Gier, Ärger, Täuschung. Aber das stammt nicht von unserer Natur, sondern
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davon, daß wir von ihr abgelenkt werden - vom
»diabolos« (dem Verwirrer), von »fremden Göttern«, also von Autoritäten, denen
wir hörig sind und die wir über die Einsichten stellen, die unmittelbar von
unserer Natur kommen.
»Die das Faule tun« sind daher die, die noch nicht zurückgekehrt sind zu ihrem
natürlichen Weg. Sie werden vom »Menschensohn« immer wieder gerichtet, also neu
ausgerichtet, neu eingestellt, repariert:
Die (menschliche) Natur ist ja so eingerichtet, daß ein falscher Weg immer
etwas Ungemütliches hat. Wir erleben eine Art »Fegefeuer«, das uns
zurechtweist. Und wenn wir seine Zeichen nicht beachten, kommt es schlimmer,
bis es so schlimm wird wie im Fall des Propheten Jona. Und wenn wir auch dieses
Zeichen noch nicht beachten, gehen wir zugrunde. Und im Sterben begegnen wir
dem Menschensohn erneut -und wieder gibt er uns die Chance, uns richten zu
lassen, damit wir wenigstens am Ende sehen, daß das ganze Leben aus der Hingabe
kommt.
Meditation
Damit diese Bilder noch tiefer wirken können, nimm die acht vorangegangenen Betrachtungen nun auch als Meditation.
Zu Beginn achte für eine Weile nur auf deinen Atem, bis du ganz ruhig
geworden bist.
Dann lies in dieser Ruhe jeweils einen Abschnitt und laß dich von seinem Inhalt
bewegen. Suche jede Einzelheit in deinem Leben auf und laß auf diese Weise den
Menschensohn in dir in dein Bewußtsein treten und dir von ihm den Himmel
öffnen.
Und in seiner Schau verweile, während du weiterhin auf deinen Atem achtest.
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Zur Copyright Information
Zur Einführung in die Thematik (Vorbemerkung etc.)
Wie die Jünger Jesu die Auferstehung erlebten
Zum Thema Pfingsten
Zum Thema "Ende >dieser< Welt und Erscheinen
des Menschensohnes"
Zu "Ist der Leichnam Jesu wieder lebendig
geworden?"
Zu "Die Antworten Jesu auf die Frage nach
der Auferstehung"
Zu Paulus zur Auferstehung
Zum Hebräerbrief
Zu "II Leben nach dem Tod?"
Zu "III Worin besteht die Erlösung?"
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