Wie die Jünger Jesu die Auferstehung erlebten
 
 
 

Das Auferstehungserlebnis der Jünger, die nach Emmaus gingen
(Lk 24, 13 - 35)

Die Ausgangssituation:

Jesus war verhaftet, von der religiösen Führung der Juden als Gotteslästerer abgeurteilt und von der römischen Besatzungsmacht als Aufrührer hingerichtet worden. Seine Freunde und Anhänger hielten sich aus Angst vor der Polizei versteckt, da sie befürchteten, als Komplizen, ebenfalls verhaftet und bestraft zu werden. Nicht einmal Simon, dem Jesus wegen seiner Verläßlichkeit den Namen »Fels« (Petrus) gegeben hatte, hatte es bei seinen Nachforschungen über das Schicksal seines Meisters gewagt, sich als Sympathisant zu erkennen zu geben.
Die Apostel versteckten sich in einer Wohnung in der Stadt. Andere Schüler Jesu zogen es vor, Jerusalem zu verlassen, weil sie hofften, die Fahndung nach den Mitgliedern der Gruppe um Jesus würde auf die Hauptstadt beschränkt bleiben. Zwei von diesen Schülern machten sich auf den Weg nach Emmaus, einem Dorf, das zu Fuß in einigen Stunden erreichbar war. Das war am Tag nach dem Sabbat, zwei Tage nach der Hinrichtung Jesu.
 

Die Begegnung mit dem Fremden

Die Geschichte, die übrigens nur der Evangelist Lukas überliefert, ist in knappster Symbolsprache erzählt. Wenn wir uns die Szenen vergegenwärtigen wollen, muß unsere Phantasie einiges ergänzen - ganz gleich, wie wir die Geschichte verstehen. So hat auch meine Phantasie die kurze Skizze ausgemalt, als ich die Geschichte eines Abends einer Gruppe von Klienten erzählte.

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Und diese Erzählung ist für mich zu einem Schlüsselerlebnis geworden, denn plötzlich löste sich ein altes Rätsel. Und an den Gesichtern meiner Zuhörer konnte ich sehen, daß auch ihnen ein Licht aufging. Der diffuse »Glaube« wurde mit einem Mal zur lebendigen Hoffnung.
Sicherlich wird sich das, was uns damals berührt hat, in dieser schriftlichen Form nicht so leicht mitteilen lassen. Aber wenn Sie die Geschichte zunächst einfach wirken lassen, werden sich manche Bedenken am Ende von selbst klären. Vielleicht war es so:

Bald nachdem die beiden Jünger das Stadttor unbehelligt passiert hatten, holten sie einen einzelnen Mann ein, der vor ihnen in die gleiche Richtung ging. Sie kannten ihn nicht, aber er sah unverdächtig aus und so ließen sie sich auf ein Gespräch ein. Als sie feststellten, daß sie den gleichen Weg hatten, baten sie den Mann, ihnen Gesellschaft zu leisten.
Die Jünger waren erleichtert, als er mitkam, denn nun hatten sie einen Gesprächspartner, vor dem sie ihr Herz ausschütten konnten. Und der Mann war froh, daß er wenigstens bis Einmaus nicht allein gehen mußte.
Natürlich merkte er gleich, daß mit den Beiden etwas nicht stimmte. Sie machten so trübe Gesichter. Vielleicht hat er eine spöttische Bemerkung gemacht, denn einer von ihnen fragte den Mann ziemlich bissig zurück, ob er denn so fremd hier sei, daß er nicht wisse, was vor zwei Tagen in Jerusalem geschehen sei. Der Fremde hatte keine Ahnung. Also erzählten ihm die beiden Schüler, was geschehen war:
Vor einiger Zeit hatten sie einen Mann namens Jesus kennengelernt und der hatte ihrem Leben eine völlig neue Wendung gegeben. Sie waren fest davon überzeugt gewesen, daß er der prophezeihte Messias war. Sie hatten fest geglaubt, daß er alles verändern würde: Auf alles, was ungut war im Land, hatte er seinen Finger gelegt und alles, was er sagte und tat, war so klar, so selbstverständlich und so menschlich, daß niemand ernsthaft gegen ihn sein konnte. Durch sein Auftreten war es daher nur

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eine Frage der Zeit, bis die auf Illusionen aufgebaute Gewaltherrschaft im Land wieder abgelöst werden würde durch das Bewußtsein des »ich bin der ich bin« (JAHWE), wie zu den Zeiten des Mose, bis also »das Reich Gottes« anbrechen würde, von dem Jesus gesprochen hatte. Er hatte allen bereits einen Vorgeschmack darauf gegeben. Er war ein Mensch von solcher Kraft gewesen, daß Kranke gesund wurden, wenn sie ihn nur sahen, daß böse Geister ausführen und daß Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten in Massen zusammenströmten, wenn bekannt wurde, daß er irgendwo auftrat.
Aber dann war alles so schnell gegangen. Die Hohenpriester hatten ihn verhaften lassen, ihn nach jüdischem Recht als Gotteslästerer zum Tod verurteilt und ihn dem römischen Statthalter übergeben und der hatte ihn als politischen Aufrührer kreuzigen lassen. Und nun war ihre Hoffnung zerstört.
 

Die Erklärungen des Fremden

Der Fremde hatte ihnen aufmerksam zugehört. Es war ihm bereits Verschiedenes über diesen Jesus zu Ohren gekommen und oft schon hatte er sich gewundert, wie wenig die Leute das verstanden, was Jesus tat. Sie hatten keinen Kontakt zur Kraft JAHWE's! Daher konnten sie einen Menschen, der aus dieser Kraft heraus lebte, nicht erkennen. Statt dessen sahen sie entweder gute oder böse übernatürliche Kräfte am Werk. Viele der religiösen Führer, Priester und Schriftgelehrte, erlebten ihn nur als Bedrohung und so behaupteten sie, er wäre im Bund mit dem Bösen. Und die anderen, die von seinen Wundem begeistert waren, sahen genausowenig, was in Wirklichkeit geschah.
Als die beiden ihren Bericht beendet hatten, fragte sie der Fremde, warum es für sie so schwer war, zu verstehen. Wußten sie denn nicht, daß die Propheten seit je her am eigenen Leib erfahren haben, daß das Eintreten für die Wahrheit lebensgefährlich ist? Und

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ein Messias, also einer, der im ganzen Volk das Bewußtsein des Bundes mit JAHWE wieder wachrufen wollte, konnte doch nicht so naiv sein zu meinen, er könnte die Mächtigen im Land ungestraft »übertünchte Gräber« nennen und ähnliches mehr.
Und außerdem - ein Messias mußte bereit sein, alles anzunehmen, was Gott, also die Wahrheit, von ihm verlangen würde:
Und im Fall von Jesus bedeutete das eben Leiden und Tod. Der Fremde fragte sie dann, was sie von den Wunderheilungen hielten.
Die Jünger sagten, was fast alle dachten, nämlich daß Jesus über Kräfte verfügt hätte, vor denen Krankheiten und böse Geister die Flucht ergreifen mußten.
Als sie der Fremde fragte, woher denn ihrer Meinung nach die Krankheiten kämen, wußten sie nicht, worauf er hinaus wollte. Es fielen ihnen nur die damals üblichen Erklärungen ein: Der Betroffene mußte gesündigt haben oder seine Eltern oder es müsse sich um eine Prüfung durch Gott handeln. Als der Mann sie aufforderte, noch etwas tiefer nachzudenken und dabei auch ihre persönlichen Erfahrungen zu Hilfe zu nehmen, erinnerten sie sich schließlich daran, daß Kranke oftmals Menschen waren, die ein schweres persönliches Schicksal zu tragen hatten, daß sie oft schwer beleidigt und verletzt worden waren. Und daß sie durch diese Verletzungen und »Kränkungen« den Glauben verloren hatten an die Kraft ihres Wesens, an den »ich bin der, der ich bin«, an JAHWE. Den Jungem dämmerte nun, wie nahe dieser Zustand dem der »Sünde« ist, weil ja auch die Gekränkten ihrer eigenen (göttlichen) Natur entfremdet sind. Außerdem geben sie die Kränkungen, die sie erfahren, fast immer in irgendeiner Form an ihre Nächsten weiter, so daß eine endlose Kette von Kränkungen und Beleidigungen entsteht. Und ohne daß sie es merken, werden sowohl die Gekränkten als auch die Kränkenden in einen Teufelskreis verstrickt, der es ihnen nahezu unmöglich macht, den Kontakt zum eigenen Wesen - und damit zu JAHWE — wiederzufinden.

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Über diesen philosophischen und psychologischen Betrachtungen hatten die Jünger schon fast vergessen, worum es eigentlich ging, nämlich durch welche Kraft Jesus die Kranken geheilt hatte. Aber jetzt waren sie auf die einfache Erklärung vorbereitet, die der Fremde für sie hatte:
Jesus hat die Kranken nicht durch irgendwelche magischen oder übernatürlichen Kräfte gesund gemacht, sondern sie wurden gesund, weil sie in Jesus einem Menschen begegneten, von dem keine Kränkung ausging. Im Gegenteil: Er hatte volles Verständnis für die menschliche Schwäche und auch für die Schuld.
In Jesus konnten sich die geplagten Menschen wie in einem Spiegel sehen, der nicht verzerrt. Sie spürten, daß er sie akzeptierte. Bei ihm fühlten sie sich angenommen, ja endlich zu Hause angekommen!
Und das genügt für die Verwandlung. Jesus muß nichts verzeihen, denn es gibt keine Anklage. Er ist ganz mit den Menschen in dem Leid, das sie erfahren, weil sie so weit von sich selbst entfernt sind. Er kennt die Wendungen des Schicksals. Er versteht, wo sie nicht mehr begreifen, was sie selbst und andere tun. Und weil er sie total versteht, können sie sich jetzt auch selbst so annehmen, wie sie sind. Sie haben keinen Grund mehr für Ärger und Trotz. Jede Schuld, jede Verkrampfung löst sich - sogar heute noch.
Der Blick auf Jesus, diesen zutiefst menschlichen Menschen, an dem nichts Unmenschliches mehr haftet, nimmt alles von uns, was uns je belastet hat. In einem Augenblick sind wir schuldlos und frei und unser Glaube ist wiederhergestellt. Jetzt können wir es wagen, uns zu zeigen wie wir sind und damit kann jetzt - in unserer Originalität — »der Menschensohn« erscheinen. Wir sind jetzt nicht mehr abgesondert (d.h. nicht mehr in »Sünde«). Wir sind eins mit unserer Natur, mit JAHWE. Unsere Spaltung ist beendet. Unsere Abwehrkraft ist wieder aufgebaut. Wir sind wieder ganz, heil und gesund.
(Von genau dieser Erfahrung spricht dann auch der Apostel Paulus, wenn er in Rom 8, 11 schreibt, daß »er, der den Chri-

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stus erweckt, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen wird, wegen seines in euch wohnenden Geists«). Den Rest besorgt die normale Regenerationsfähigkeit unseres Organismus. Was wir in der Zeit der Kränkungen und der Schuld an Wunden zugefügt bekommen haben, heilt nun - nicht durch Hokus-Pokus und auch nicht unbedingt blitzartig, wie wir uns Wunder immer vorstellen, aber normal, so wie eine Schnittwunde heilt. Und so dauert es eine kleine Weile, dann ist der aussätzige Leprakranke ganz wiederhergestellt. Diese Erklärung verblüffte die Jünger - »ihr Herz brannte«, wie es im Text unserer Erzählung heißt. Sie begannen nun, Jesus in einem anderen Licht zu sehen. Sie verstanden jetzt mit einem Mal, warum er sich selbst immer wieder »Menschensohn« genannt hatte. In seinem wirklichen Mensch-sein also lag das Geheimnis seiner Kraft. Er hatte immer wieder davon gesprochen, aber sie waren so verhaftet gewesen an dogmatische Vorstellungen über Gott und die Welt, die natürlichen und die übernatürlichen Mächte, daß sie gar nicht hören hatten können, was er sagte.
Die beiden Jünger waren so vertieft in ihr Gespräch mit dem Fremden und all die neuen Einsichten, die sie gewonnen hatten, daß der Weg für sie wie im Flug verging. Sie erreichten Emmaus, als die Sonne gerade untergehen wollte. Der Fremde wollte sich verabschieden, doch sie baten ihn, diesen Abend und diese Nacht bei ihnen zu bleiben. Sie luden ihn ein in ihr Haus und er kam mit.
Sicherlich war das Haus nicht leer, das sie betraten. Wahrscheinlich war es das Haus der Eltern oder das Haus von Freunden der zwei Jünger. Und sicher kannten die anderen Hausbewohner Jesus auch. Die beiden Jünger machten den Fremden also mit ihren Freunden bekannt und sie erzählten ihnen von den neuen Einsichten und so freuten sich alle im Haus über ihren Gast.

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Das Auferstehungserlebnis

Als das Abendessen aufgetragen wurde, kannten sich alle schon ganz gut und alle kannten auch das, was der Fremde über Jesus und seine Wunder gesagt hatte. Und weil der Mann ihnen dieses Verständnis gegeben hatte, wurde er zum Ehrengast und er wurde gebeten, beim Essen den Vorsitz zu übernehmen. Der Fremde zierte sich nicht - und weil das so üblich war, nahm er das Brot, dankte, brach es und verteilte es in der Runde. »Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn.« Alle Anwesenden hatten Jesus gut gekannt und sie alle hatten sich nun stundenlang mit dem Fremden unterhalten und nicht für einen Augenblick war ihnen die Idee gekommen, sie hätten Jesus vor sich. Aber jetzt erkannten sie ihn! Hat sich der Fremde jetzt plötzlich auf magische Weise in Jesus verwandelt? Hat in diesem Augenblick eine stundenlange multiple Sinnesverwirrung aufgehört, die so stark war, daß sie ihren geliebten Meister nicht von einem Fremden unterscheiden konnten? Eher wohl hatten die Jünger in diesem Moment eine Wesenseinsicht! Weder hat sich der Fremde plötzlich in Jesus verwandelt, noch waren die Jünger zuvor einer Sinnestäuschung erlegen. Sie waren nur dem »normalen« Mißverständnis über das Leben erlegen und jetzt sahen sie, wie es wirklich war. In dem Fremden sahen sie »es«, wie sie es zuvor in Jesus gesehen hatten. Die Erleuchtung kam plötzlich, in dem Augenblick, als der Fremde das Brot brach, wie Jesus das so oft in der Mitte seiner Jünger getan hatte:
Da sahen sie Jesus!
Ihre Vision war also nicht das Ende einer unglaublichen und banalen Verwechslung! Und es war auch keine neue Verwechslung. Und sie sahen auch kein Gespenst. Sie sahen Jesus wirklich - in dem Fremden - aber nur für einen Augenblick, denn gleich darauf »sahen sie ihn nicht mehr«. Ihr Gast hat sich nun nicht in Luft aufgelöst, sondern die mit der Erkenntnis verbundene Projektion des Bildes Jesu auf den Frem-

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den hat aufgehört. Sie war auch nur für diesen einen Moment nötig. Wir kennen solche Momente ja aus eigener Erfahrung, wo plötzlich aus der Er-Innerung etwas auftaucht, durch das uns das Wesentliche am gegenwärtigen Augenblick klar wird.
Plötzlich wußten die Jünger mit jeder Faser ihres Seins, daß Jesus jetzt bei ihnen war, ebenso wirklich wie er es je zu Lebzeiten gewesen war, ja noch wirklicher, denn jetzt waren sie mit ihm in seinem »Reich«, auf seiner Bewußtseinsebene!
Jetzt erkannten sie in dem. Fremden das, wofür Jesus gelebt hatte und wofür er gestorben war: das echte Menschsein! Das hatte die Kranken heil gemacht und jetzt heilte es sie selbst! Und ihre eigene Menschlichkeit erschien und zeigte ihnen, daß Gott den Menschen wirklich als sein Ebenbild geschaffen hat.
Jesus wußte das immer schon. Deshalb hat er ganz bewußt als Ebenbild Gottes gelebt. Und deshalb waren in Jesus die göttliche und die menschliche Natur vereint, wie die spätere christliche Theologie es ausgedrückt hat. Aber der Evangelist Johannes zeigt uns in der Einleitung zu seinem Evangelium, daß die Gottebenbildlichkeit nicht auf Jesus beschränkt ist, sondern daß sie für alle Menschen gilt, weil wir ja alle dazu aufgerufen sind, echte Kinder Gottes zu werden.
Die Einsicht der Jünger in Emmaus hat natürlich nichts zu tun mit der späteren theoretischen »Erkenntnis« der Theologen. Die Jünger wälzten keine Theorien. Sie waren wie vom Blitz getroffen. Sie »sahen« mit ihrem ganzen Wesen, daß das, was Jesus war, von keinem Grab festgehalten werden konnte. Sie sahen ihn - in der Gestalt des Fremden. Ihr Bewußtsein befand sich auf einer anderen Ebene - nämlich da wo »der Menschensohn«, das echte Menschsein, in jedem Menschen immer schon da ist und wartet.
Und da »sahen« sie, daß er »auferstanden« war.
Und - daß er in jedem aufersteht, der den »Menschensohn« erkennt.
Vielleicht ist diese Geschichte von den Jungem, die nach Emmaus gingen, die älteste Auferstehungsgeschichte überhaupt,

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vielleicht wurde sie erst später zurückgestuft, um den Aposteln die Ehre zu geben.
Aber es geht nicht um die Frage nach dem Vorrang, sondern darum, daß wir berührt werden, daß wir hier und jetzt verwandelt werden von der makellosen Menschlichkeit Jesu.

Damit wir wirklich berührt werden, vertiefen wir unser Erlebnis jetzt durch die folgende Meditation:
 

 

Meditation

Bevor du die Meditation beginnst, setz dich gerade hin und laß dich innerlich zur Ruhe kommen, indem du einfach auf deinen Atem achtest. Wenn du ganz bei dir bist, wende deine Aufmerksamkeit den Jungem zu, die nach Emmaus gingen:

Laß jetzt die Geschichte, die du eben gelesen hast, nocheinmal an dir vorüberziehen. Werde selbst zu einem dieser Jünger. Spüre, wie die Angst dir in den Knochen sitzt zwei Tage nach der Hinrichtung deines Meisters. Fliehe in dieser Angst aus der Stadt, in der möglicherweise auch dir Gefahr droht, verhaftet, gefoltert oder gar getötet zu werden. Spüre die Verzweiflung, nachdem der, auf den du deine ganze Hoffnung gesetzt hattest, umgebracht worden ist. Und in dieser Verzweiflung und Angst geh mit deinem Kameraden, der ähnlich empfindet, in Richtung Heimat. Ihr geht nach Hause, aber wo ist dein Zuhause, da du doch die Erlösung an dir selbst noch nicht erfahren hast und der Einzige, der dir dazu verhelfen hätte können, tot ist? Ihr versucht, einander zu trösten, aber ihr seid untröstlich! Und da trefft ihr einen Fremden, der euch noch eure letzten Illusionen nimmt - und der doch etwas hat, das ihr von irgendwoher in guter Erinnerung habt.
Nach und nach gelingt es diesem Fremden, deine magischen Vorstellungen über die Erlösung aufzulösen. Du hattest gehofft, dein Meister würde dich verzaubern und dich durch seine übernatürlichen Kräfte in so einen Menschen verwandeln, wie er

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selber einer war. Und nun zeigt dir dieser Fremde, daß die Wunder deines Meisters keine Wunder in dem Sinn sind, wie du es dir immer vorgestellt hast, sondern daß er die Menschen einfach auf einer ganz tiefen menschlichen Ebene berührt hat, so daß sie von innen heraus von selber heil werden konnten. Und nun beginnst du zu ahnen, worin deine Erlösung bestehen wird, obwohl dir davon noch nichts ins Bewußtsein dringt.
Und nun kommt ihr an an eurem Ziel »zu Hause«, in dem ihr euch wohl nie wieder zu Hause fühlen werdet, nachdem euer Meister nicht mehr ist. Ihr kommt mit schlechter Nachricht und es ist ein großes Glück, daß ihr unterwegs den Fremden getroffen habt. Das macht es euch leichter eurer Familie die schlimme Botschaft mitzuteilen. Durch ihn habt ihr auch eine gute Nachricht, daß ihr nämlich unterwegs schon ein wenig mehr von dem verstehen gelernt habt, was Jesus getan hat.
Und eure Angehörigen werden schon angesteckt von eurer Hochachtung vor diesem Fremden und alle hören ihm voll Staunen zu in der geheimen Hoffnung, daß er ihnen das Unbegreifliche begreiflich machen wird. Auch du hängst an seinen Lippen und gierig trinkst du jedes Wort, das von ihm kommt. Das Essen kommt, aber du hast nur Augen für den Fremden. Und der nimmt das Brot, wie Jesus es immer wieder getan hat, und er bricht es. Und da bricht etwas in dir und in allen anderen. Wie wenn der Damm eines allzuhoch aufgestauten Sees nachgibt, bricht da mit einem ungeheuren Schwall dein ganzer alter Schmerz hervor und reißt die ganze alte Welt mit sich und zurück bleibt ein Haus voller Menschen, die soeben das erfahren haben, woran sie kaum noch hatten glauben können: ihre Erlösung. Und reihum weichen die Tränen dem Lachen und ihr fallt euch gegenseitig um den Hals vor Glück und weil ihr bis oben hin voll seid mit Zuneigung und mit Liebe.
Und in dieser Liebe, das weißt du jetzt, besteht das Geheimnis deines Meisters und nun hast du sie an dir selber erfahren. Nun weißt du, daß er nicht tot ist, sondern daß er lebt. Und mit dieser frohen Botschaft brichst du jetzt wieder auf. Du gehst mit

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den beiden Jungem zurück in die heilige Stadt, um den anderen mitzuteilen, was ihr erfahren habt. Und du siehst: Den Aposteln ist das gleiche geschehen. Zum ersten Mal haben sie das jetzt alleine erfahren. Obwohl ihr Meister getötet wurde, ist er doch mitten unter ihnen — und auch mit jedem von uns.

Atme nun gemeinsam mit ihm. Und mit jedem Ausatmen laß deine alten Schmerzen und Verhärtungen los und sieh wie mit jedem Einatmen das neue, erlöste Leben in dir wächst.

Laß diese Erfahrung jetzt in dir wirken, dann erst geh weiter zum nächsten Abschnitt.
 
 

Der ungläubige Thomas
(Joh 20, 24 - 29)

 

Mit der Geschichte vom ungläubigen Thomas hat der Evangelist Johannes sein Evangelium ursprünglich abgeschlossen. Sie ist daher von ähnlich fundamentaler Bedeutung wie die Einleitung »Am Anfang war der Logos ...«.
Dementsprechend ist diese Geschichte nicht einfach ein Bericht von einem längst vergangenen historischen Ereignis und Thomas ist nicht einfach nur einer von den zwölf Aposteln. »Zwölf« bedeutet ja »allumfassend« und wie die »zwölf Stämme Israels« vertreten auch die »zwölf Apostel« alle Menschentypen. Thomas steht also für eine ganze Kategorie von Charakteren: Thomas, der Ungläubige, das sind wir! Um unsere Verwandlung geht es vom Anfang bis zum Ende des Johannesevangeliums. Johannes beschreibt ja vor allem den Weg, wie die gewöhnlichen, zufällig geborenen und ungläubigen »Kinder des Fleisches« - wir - zu Kindern Gottes werden, wie wir wiedergeboren werden können aus dem Heiligen Geist, wie der Menschensohn in uns uns wieder dorthin zurückbringt, von wo er gekommen ist: in den Himmel. Ganz ähnlich wie in der Geschichte von den Jungem, die nach Emmaus gingen, lesen wir auch hier fast nichts über die Krise,

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in der sich die Apostel befanden, bevor Jesus in ihrer Mitte erschien.
Fest steht nur, daß sich die Apostel eingeschlossen hatten aus Angst, selbst verhaftet zu werden. Sie waren erschüttert, traurig und hoffnungslos. Tage saßen sie so zusammen und versuchten verzweifelt, zu verstehen, was geschehen war. Sie hatten Jesus so gut gekannt, aber die Tragödie, die sie eben miterlebt hatten, wollte nicht in ihren Kopf. In ihrem Kopf liefen die alten Muster und Projektionen. Sie waren gefangen in ihrer alten Welt, aber darin war es jetzt nicht mehr auszuhalten. Etwas mußte geschehen!
Hätten sie nicht so viel Angst gehabt und wäre es nicht völlig aussichtslos gewesen, angesichts der Übermacht, sie hätten jetzt einen Aufstand gemacht.
Wie sie diese heuchlerischen Priester haßten! Die hielten sich für die Stellvertreter Gottes auf Erden, aber den Menschen, in dem Gott gleichsam persönlich auf Erden erschienen war, den brachten sie um, im Namen Gottes! Aber warum war Jesus der Gefahr nicht ausgewichen? Was nur mochte ihn veranlaßt haben, sich genau in dem Moment in Jerusalem zu zeigen, als die Priester auf eine Gelegenheit warteten, ihn festzunehmen und zu beseitigen? Er hatte davon gewußt und trotzdem war er direkt in die Falle getappt. Sie konnten es nicht begreifen. Lange waren sie hin und her gerissen von den widersprüchlichsten Gefühlen bevor ihnen klar wurde, daß sie etwas Wichtiges, ja möglicherweise das Wesentliche überhaupt, bis zuletzt nicht verstanden hatten. Sie beteten um Einsicht, aber die Einsicht kam nicht. Sie ließen daher alles, was sie zusammen mit ihm erlebt hatten, noch einmal an sich vorüberziehen, um den Schlüssel zu dem Geheimnis zu finden.
Besonders die Heilungen beschäftigten sie. Diese übernatürlichen Kräfte, die Jesus gehabt hatte! Nichts, so schien es, wäre ihm unmöglich gewesen. Aber gerade deshalb war doch sein Ende so völlig unbegreiflich!

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Er hatte zwar gesagt, daß es so kommen würde und daß er sich entschieden hätte, es geschehen zu lassen - aber sie hatten das damals nicht ernst genommen. Sie hatten gemeint, er spreche nur darüber, was einige der führenden Politiker und Priester ihm gern angetan hätten. Daß es wirklich so kommen würde, hatten sie nicht zu denken gewagt. Es paßte nicht zu ihren Vorstellungen vom Messias.
Und so waren die engsten Vertrauten Jesu jetzt wie vor den Kopf geschlagen.
Und sie erinnerten sich, daß dieses Gefühl nicht neu für sie war, denn er hatte sie von Anfang an immer wieder vor den Kopf gestoßen und ihnen Dinge zugemutet, die für ihre Vorstellungswelt völlig unerträglich waren. Aber damals war immerhin er selbst da gewesen. Er war der lebendige Beweis dafür gewesen, daß das, was er tat, richtig war. Aber jetzt - jetzt war er tot!
Schiere Panik überfiel die Apostel bei dem Gedanken! Am liebsten wären sie schreiend davongelaufen, aber wohin? Sie mußten zusammenhalten und gemeinsam nach einer Lösung suchen! Sie erinnerten sich an seine Reden. Alles war so klar gewesen. Alle hatten es verstanden. Nur mit den Priestern gab es von Anfang an Schwierigkeiten. Die klammerten sich an den Buchstaben des Gesetzes, den Sinn hatten sie vergessen. Es war einfach herrlich, mitzuerleben, wie er sie immer wieder auflaufen ließ, wenn sie ihm eine Falle stellen wollten mit einer dogmatisch gefährlichen Frage! Immer wieder wollten sie ihn »entlarven« als einen Gesetzesbrecher, ja sogar als Gotteslästerer, aber er durchschaute ihre Absichten sofort und dann stellte er sie so bloß, daß sie am liebsten im Erdboden versunken wären. Es war eine Genugtuung, wenn diese eingebildeten Herren richtig dumm dreinschauten in ihren so säuberlich gebügelten Gewändern!
Aber letzten Endes hatten die nun doch gesiegt. Unter einem fadenscheinigen Vorwand hatten sie ihn verhaften lassen und die Römer hatten ihnen den Gefallen getan und ihn aufgehängt. Wie hatte er das nur geschehen lassen können? Er wußte doch, was da vorging! Natürlich wußte er es. Er hatte ja schon lange zu-

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vor gesagt, daß man ihn umbringen würde, aber wie hätten sie das glauben können? Es war nicht zu fassen! Warum nur? Wie konnte er das zulassen? Wie konnte er sie so im Stich lassen? Ja, nun war es ausgesprochen! Sie fragten gar nicht nach seinem Schicksal, sondern nach dem ihren! Was sollte nun aus ihnen werden? Sie hatten alles verlassen und waren ihm nachgefolgt und nun saßen sie da, ohne ihren Meister! Wie hatte er ihnen das nur antun können? Sie ärgerten sich nun nicht mehr über die Priester, sondern über ihren zu Tode gefolterten Meister!
Diese beschämende Erkenntnis schlug ein wie ein Blitz. Einige begannen zu weinen. Sie beteten zusammen unter Tränen der Scham, aber sie fanden keine Erleichterung. Hatten sie denn alles vergessen? Waren sie dazu drei Jahre lang mit Jesus durch dick und dünn gegangen, um jetzt zurückzufallen in den Zustand, in dem sie waren, bevor sie ihn kennengelernt hatten? Warum waren sie ihm denn gefolgt?
Seine Kraft hatte sie fasziniert. Wie er allen die Wahrheit sagte! Dieses Selbstbewußtsein! Sie hatten davon in diesen Jahren so gut wie gar nichts abbekommen. Woran lag das nur?
Er hatte ihnen seine Heilkraft sogar für eine Weile geliehen, als er sie aussandte, um Dämonen auszutreiben (Mk 6, 7-13). Wenn sie damals in seinem Namen zu einem Besessenen sprachen, sahen sie Wellen der Erschütterung ausgehen von ihren Worten und etwas Fürchterliches löste sich von diesen Menschen. Aber wo waren diese Kräfte jetzt? Jetzt konnten sie sich nichteinmal selber trösten!
Sein Geheimnis hatten sie bis jetzt nicht mitgekriegt!
Vielleicht lag es in der Wärme und Freundlichkeit, mit der er allen begegnete. Aber das war nicht so außergewöhnlich — oder doch? Jedenfalls hatten sie sich immer wieder darüber gewundert, wie freundlich Jesus war — wenn er nicht gerade jemand gegenüber stand, der ihm eine Falle stellen wollte. Ja, er war wirklich unglaublich freundlich! Sogar zu Leuten, die ihnen völlig unmöglich erschienen waren! Wie oft hatten sie sich

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darüber geärgert! Wenn sie nur an die Geschichte mit diesem Ausbeuter und Leuteschinder Zachäus dachten, dem Zöllner, wie sie sich gefürchtet hatten, beschmutzt zu werden von dem schlechten Ruf des Mannes, als ihr Meister sie mitnahm in dessen Luxusvilla! Aber Jesus hatte Erfolg mit ihm gehabt, das mußten sie zugeben.
Er war tatsächlich »die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes« in Person. Wie hatte er das nur gemacht? Selbstüberwindung? Es hatte nicht danach ausgesehen. Da war nichts Erzwungenes darin.
Ja, das war ein wichtiger Punkt! Alles, was er tat, war so natürlich! So ohne Berechnung, einfach so. Alles kam bei ihm so leicht, wie von selber. Bedenken kannte er nicht.
Und was er auch tat, auf nichts bildete er sich etwas ein - ganz im Gegensatz zu ihnen. Wie oft hatten sie sich geschämt, wenn er sie anblickte. Immer wieder hatte er sie dabei ertappt, wie sie bei den Leuten mit seiner Bekanntschaft und mit seiner Kraft angeben wollten. Dabei lag gar nichts Vorwurfsvolles in seinem Blick! Im Gegenteil! Ja, das war es ja gerade, was einen so beschämt machte. Er durchschaute einen nicht nur- in seinem Blick war einfach nur Mitgefühl! Es konnte schrecklich sein, dieser Blick! Zum Glück ließ er einen darin nicht zu lange schmoren; er lenkte immer gleich wieder ab, mit einem kleinen Scherz oder sonst irgendwas, was ihm gerade in den Sinn kam.
Warum tat er das, warum machte er die Leute nicht mürbe mit diesem Blick? Er hätte sie alle in die Knie zwingen können. - Vielleicht hatte er das gemeint, als er bei seiner Verhaftung zu seinen Begleitern sagte, sie sollten nicht versuchen, für ihn zu kämpfen, denn wenn er wollte, würde ihm sein Vater auf der Stelle zehn Legionen Engel senden. Mit diesem Blick hatte er die zehn Legionen Engel schon bei sich, aber er setzte sie nicht ein. Statt dessen ließ er sich gefangen nehmen und sogar umbringen! Es war unfaßbar!
»Wenn dich einer auf die linke Backe schlägt, halte ihm auch die rechte hin!« Genau so hatte er es gemacht. Es war einfach

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unmenschlich! Dabei war doch gar nichts Moralistisches an ihm und er war auch kein Asket, ganz im Gegenteil! Was nur mochte ihn zu diesem letzten Schritt bewegt haben?
Das einzige, wovon er sich bewegen ließ, so hatte er immer wieder gesagt, war »der Vater«. Aber woher wußte er denn so genau, was »der Vater« von ihm wollte? Er hatte sogar behauptet, sie wüßten es insgeheim auch und manchmal hatte er es ihnen gezeigt. Es stimmte, sie wußten es; aber wo war dieses Wissen, wenn er es nicht gerade aus ihnen hervorlockte?
Es mußte da sein! Irgendetwas deckte es nur zu! Aber was kann ein solches Wissen zudecken? Sie wußten es schon, denn es passierte ihnen immer wieder:
Angst, Trotz, Beleidigtsein, Angeberei, Erinnerungen, Berechnungen, »ich«, »ich«, »ich«! Tränen traten ihnen wieder in die Augen bei dem Gedanken. Sie waren einfach hoffnungslos selbstsüchtig! Dabei wollten sie doch so gerne selbstlos sein und so wie Jesus nur dem »Vater« folgen!
Aber wie sollten sie denn in Kontakt kommen mit dem »Vater«? Was meinte Jesus denn, wenn er sagte »Ich und der Vater sind eins«? Sie spürten zwar, daß es genau so war - aber trotzdem war es für sie völlig unbegreiflich. Einerseits schien es, als hätte er gar keine eigenen Interessen, keinen Ehrgeiz, keinen Stolz, aber gleichzeitig hatte er so viel Selbstbewußtsein und so viel Kraft! Und seine Treffsicherheit! Er brauchte jemand nur anschauen und schon wußte er genau, was mit ihm los war, auch wenn er ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
Mose, so sagte man, hatte sein Wissen von JAHWE. Jesus hatte es von seinem »Vater«. Ob er damit etwas anderes gemeint haben könnte, als sie bisher immer angenommen hatten? Wie konnte ein Mensch eins sein mit dem himmlischen Vater? War Jesus überhaupt ein wirklicher Mensch gewesen? Klar doch! Schließlich waren sie ja jahrelang mit ihm umhergezogen!
Aber es war doch sehr seltsam: Seine Reaktionen kamen immer so blitzschnell. Da war keine Zeit für eine Zwiesprache mit dem

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»Vater«. Woher kam das alles bloß und warum hatte er überhaupt keine Bedenken irgendeiner Art? Er erschien ihnen zu wundersam, eben nicht vergleichbar mit ihnen selbst.
Aber wenn nur er diese Fähigkeiten erreichen konnte, wozu hatte er dann versucht, ihnen klar zu machen, was er tat? Ja, das war wohl das Einzige, mit dem er gescheitert war: Er hatte es nicht geschafft, ihnen beizubringen, was das Geheimnis seines Lebens war.
Die Apostel waren erschöpft von all diesen Fragen, vor allem aber deshalb, weil es Fragen ohne Antworten waren. Es war hoffnungslos. Es war so schlimm, daß sie manchmal dachten, das alles wäre gar nicht geschehen und Jesus würde jeden Augenblick zur Tür hereinkommen. Sie war zwar abgesperrt, aber er kannte den Trick. Plötzlich würde er dastehen und wie in alten Zeiten sein »Friede mit euch« sagen und alle würden in Tränen ausbrechen und ihm um den Hals fallen.
Nein, nun waren sie ganz ins Phantasieren geraten! Sie mußten Schluß machen für diesen Tag. Sie beteten nochmals gemeinsam um Einsicht und gingen dann in stille Meditation und einige legten sich schlafen.

Am nächsten Tag waren sie wieder nüchtern. Zuerst mußten sie ohnehin das Nötige erledigen und es wurde Abend, als sie wieder beisammen saßen. Thomas war diesmal nicht dabei, denn er hatte einen Auftrag auszuführen und er war froh um die Ablenkung. Nach dem Abendessen beteten sie wieder und sie brachen Brot und tranken Wein, weil er doch gesagt hatte, in Brot und Wein würde er immer bei ihnen sein. Aber es tröstete sie nicht. Sie versuchten herauszufinden, welche wichtigen Erkenntnisse es am Vorabend gegeben hatte.
Das Wichtigste, so schien ihnen, war das Einssein mit dem Vater. Warum waren sie denn nicht eins mit dem Vater, was hinderte sie? Auch das hatten sie schon durchgekaut, aber irgendwo da mußte der Schlüssel liegen. Nicht nur seine Kraft,

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auch diese unglaubliche Menschlichkeit mußte etwas mit seinem Einssein mit dem Vater zu tun haben.
Schon wieder begann dieses Gefühl der Verwirrung, das sie gestern gehabt hatten, als sie es schließlich aufgaben! Auf dem Weg des Denkens würden sie die Lösung nicht finden. Die Lösung mußte von selbst kommen. »Selig die Trauernden, sie werden getröstet werden.« Sie mußten einfach zugeben, daß sie nicht weiterwußten. Sie mußten zugeben, daß sie in einer schrecklichen Lage waren! Mit all den Gedanken, die sie sich gemacht hatten, hatten sie nur versucht, sich von der Wirklichkeit abzulenken. Sie hatten so getan, als könnten sie aus eigener Kraft einen Ausweg finden! Deshalb hatten sie nach dem Schlüssel gesucht, nach der Methode nach der Jesus vorging. Aber wenn Jesus eine Methode hatte, dann war es keine Methode im üblichen Sinn. Auch er wußte manchmal nicht weiter und dann betete er. Er hatte sich nie gescheut, Hilflosigkeit zu zeigen. Erst vor drei Tagen hatten sie es zuletzt erlebt, als er mit ihnen auf den Ölberg gegangen war. Es war unfaßbar, daß er vor drei Tagen noch bei ihnen gewesen war!
Vor drei Tagen hatte er gezittert und nun zitterten sie! Und sie versuchten jetzt nicht mehr, es zu verbergen. Ihren Tränen und ihren Gebeten an den Vortagen hatte es vielleicht noch an Ehrlichkeit gefehlt. Aber nun kam echte Trauer. Sie ärgerten sich nicht mehr darüber, daß Jesus sie sitzen hatte lassen und sie ärgerten sich auch nicht mehr über die Priester. Nur noch eines erfüllte ihr Bewußtsein, daß sie mit Jesus alles verloren hatten. Sie wußten nicht mehr ein noch aus. Ein ungeheures Schluchzen erfüllte den Raum, in dem sie saßen.
Sie taten nichts mehr, um die Tränen zu stoppen. Es tat so gut, so völlig hemmungslos zu weinen und zu zittern und zu klagen. Es war so gut. Alles war gut. Sie wußten nicht, wie es geschah, aber nach einiger Zeit war es, als hätte ein Gewitter aufgehört. Die Wolken verschwanden. Die Sonne kam hervor. Und sie wußten: Gott war mit ihnen, jetzt und immer.
Jetzt waren auch sie eins mit dem Vater - wie Jesus.

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Und da war Jesus - mitten unter ihnen. Und sie wußten, er würde immer da sein - für sie - und auf ewig - lebendig - bleiben.
Sie waren im Paradies! Sie standen unter dem Baum des Lebens! Und alle Fragen des Vortags beantworteten sich nun wie von selbst.
Das Geheimnis Jesu war: Er hatte nicht von dem verbotenen Baum gegessen!
Und auch für sie gab es jetzt keine Unterscheidung mehr von »gut« und »schlecht«. Sie konnten jetzt sogar verstehen, warum Jesus auf diese Weise in den Tod gegangen war. Es war der Wille des Vaters! Ihm allein war er immer gefolgt. Seine Entscheidungen kamen nicht von Ideen, die ihm jemand mitgeteilt hatte und auch nicht von Erfahrungen, sondern von viel, viel tiefer - sie kamen aus dem Kern seines Wesens. Deshalb war er eins mit Gott und gleichzeitig mit der Welt. Und deshalb hatte er diese Kraft!
Auch sie waren jetzt in Kontakt mit ihrem göttlichen Kern und sie wußten, daß ihre Gerechtigkeit jetzt größer war als die der Schriftgelehrten und Pharisäer. Wie oft hatten sie sich gefragt, wie das möglich sein konnte, wo doch die Schriftgelehrten und die Pharisäer das Gesetz buchstäblich und in allen Einzelheiten befolgten!
Und jetzt fühlten sie auch dieses abgrundtiefe Verständnis, das Jesus hatte für alle menschlichen Schwächen und sie fragten sich nicht mehr, warum er so viel lieber mit denen zusammen war, die ihre Schwächen zeigten, als mit denen, die sie versteckten hinter einer schönen Maske — und warum er die Träger solcher Masken so scharf attackiert hatte. Und auch die »übernatürlichen Kräfte«, durch die Jesus die Kranken geheilt hatte, waren jetzt für sie ganz natürlich! Jesus brauchte keine Magie! Er sandte keine mysteriösen Kräfte aus, und er brauchte auch keine solchen Kräfte von seinen Patienten abwehren. Was er tat, hatte überhaupt nichts mit Macht zu tun, denn nichts von dem, was er tat, kam von einer

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Absicht - im Gegenteil - alles kam ganz spontan, von selber, aus seinem Innersten.
Und nun sahen sie mit eigenen Augen, warum er zu ihnen gesagt hatte: »Wer mich sieht, sieht den Vater«.
Sie hatten immer gedacht, Jesus habe ein übernatürliches Verhältnis zu Gott oder gar, daß er selbst ein übernatürliches Wesen sei. Und wegen der Wunder, die er tat, waren solche Vorstellungen ganz normal für sie gewesen, aber nun sahen sie, daß sie das »Geheimnis« Jesu völlig mißverstanden hatten:
Jesus war einer wie sie - aber, im Gegensatz zu ihnen, einer, der seiner göttlichen Natur kein Hindernis in den Weg legte. Er war ein echter, ganzer Mensch. Und als ein ganzer Mensch ließ er sich berühren vom Leiden der Menschen. Er ging dem Leiden auf den Grund und er sah, wie es in jedem einzelnen entsteht. Und sie sahen es nun auch.
Die Versuchung, sich ein Bild zu machen vom »Guten« und vom »Schlechten« war die »Saat des Lügners«, des »diabolos« (Mt 13, 39), von der Jesus gesprochen hatte. Die Apostel sahen jetzt, wie diese Saat von Anfang an in jedes Menschenleben gestreut wird, und wie das schon vor der Zeugung beginnt, weil schon die Ahnen vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Denn wie die Vorfahren ihren Konzepten folgen statt dem »Vater«, achten auch ihre Nachkommen das Göttliche nicht mehr in den Wesen und so werden alle verletzt von Anfang an. Und so wächst mit dem Menschlichen das Unmenschliche in uns allen und an manchen Stellen wird das Menschliche ganz erstickt.
Das hat Jesus am eigenen Leib erfahren. Und er hat verstanden, warum es geschieht. Und alle, die ihm begegneten, konnten das spüren. Sie fühlten sich vollkommen angenommen, oft zum ersten Mal in ihrem Leben. Und dadurch sind mit einem Mal alle Beleidigungen und Kränkungen, die sie im Lauf ihres Lebens hinnehmen mußten, von ihnen abgefallen.
Und Jesus hat auch ihre Schuld verstanden: Auch sie kommt ja von den Kränkungen. Sie konnten ja gar nicht verhindern, daß

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sie die Schmerzen, die sie empfingen, weitergaben. Ihre innere Spaltung zwang sie dazu. Aber jetzt, als Jesus sie ansah, wurde ihnen der Teufelskreis bewußt, in dem sie gefangen waren. Und indem sie das ganze Verhängnis sahen, versiegte auch plötzlich die Wut, die sie auf alle hatten, die ihnen je Übles angetan hatten, angefangen von ihren Eltern bis hin zu ihren Konkurrenten. Wo blieb da der Ärger, der Trotz, der Haß und die Gier nach Ausgleich für alle unverschuldeten Versagungen?
Erneut traten Tränen in die Augen der Apostel. Es waren Tränen der Freude über das wiedergefundene, unverfälschte Leben.
Sie waren geheilt. Ihre innere Spaltung war überwunden. Es gab keinen Grund mehr für Selbstbestrafung. Keine Zweifel, nichts mehr schwächte ihre Abwehr. Ja, jetzt waren auch sie
ganz und heil. Jetzt wußten sie zum ersten Mal wirklich, was das bedeutet:
»Heil«! Sie konnten aufatmen, jetzt und für immer, denn sie hatten die Quelle gefunden - deren Wasser den Durst für immer löscht. Durch Jesus hatten sie jetzt JAHWE entdeckt, den göttlichen Atem in ihnen! Durch Jesus hatten sie sich selbst wiedergefunden. Ja, nach all den Jahren mit ihm — war Jesus erst jetzt wirklich bei ihnen!
Kranke waren schon vor langer Zeit heil geworden, aber die Apostel hatten zu der Zeit noch nicht begriffen, was da geschah. Sie waren noch befangen gewesen in ihren Konzepten von »gut« und »schlecht« - und in ihren Verletzungen! Sie konnten die Schranken ihres »Ich« noch nicht sprengen. Sie konnten noch nicht zu sich selbst finden. Dazu brauchte es mehr, viel mehr.
Die Kranken waren durch ihr Leiden vorbereitet für die Einsicht. Ihre alte Welt war bereits keinen Pfifferling mehr wert. Es gab keinen Ausweg für sie, und daher blieb ihnen auch keine Fluchtmöglichkeit, als sie auf Jesus trafen. Sie mußten sich stellen und sie begegneten - ihrer eigenen Menschlichkeit!

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Aber die Apostel waren »gesund«. Sie hatten keinen dringenden Grund sich zu ändern. Und Vorstellungen oder Argumente allein können einen Menschen nicht verwandeln.
Die Vorstellungen sind ja das Problem und die Lösung besteht nicht darin, falsche Vorstellungen durch richtige zu ersetzen, denn es gibt keine richtigen. Das Richtige ist etwas anderes! Es ist bereits da und was es daran hindert, die Führung zu übernehmen, sind gerade die Vorstellungen.
Es braucht einen massiven Ansturm, einen Schock, damit die Barriere der Vorstellungen durchbrochen werden kann. Bei den Kranken tat es die Krankheit, aber wie konnten die Apostel geheilt werden?
Jesus sah, er konnte nicht für immer auf dieser Welt bleiben. Und er hatte bereits alles getan, was möglich war. Andere mußten weiterarbeiten.
Er hatte dem ganzen Volk gezeigt, was ein Leben in Übereinstimmung mit JAHWE bedeutet, welche Kraft davon ausgeht. Er hatte eine Handvoll verläßlicher Leute um sich geschart und er hatte ihnen alles gesagt, was es zu sagen gab. Aber sie hatten nicht verstanden. Nichts von dem, was er gesagt oder getan hatte, hatte ihre Welt zum Einsturz gebracht. Die Metamorphose war nicht eingetreten. Sie hatten ihr Erbe als Söhne Gottes nicht antreten können. Sie waren nicht zurückgekehrt ins Paradies. Die Mission des menschgewordenen Gottes war gescheitert!
Diese Wahrheit mußte jetzt für alle sichtbar zum Ausdruck kommen. Vom Standpunkt »dieser Welt« aus hatte er sein Ziel verfehlt. Die angesagte Revolution hatte nicht stattgefunden. Sein Leben war verwirkt. Und vom Baum des Lebens her war an diesem kritischen Punkt eine Art »Harakiri« verlangt: Jesus mußte einstehen für den nicht durch ihn verursachten Mißerfolg. Er mußte sich einreihen in die Reihen der Gescheiterten, denn sein Himmel war nur möglich, wenn er sich solidarisch zeigte mit den Letzten in dieser Welt: Waren die denn schuld an ihrem Schicksal?

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Und was alle Reden, Zeichen und Wunder nicht erreicht hatten - dieser letzte Dienst Jesu an der Wahrheit katapultierte seine Schüler ans Ende ihrer Welt. Selbst mit den besten Unterscheidungen von »gut« und »schlecht«, die sie von ihm übernommen hatten, hatten sie ihr Leben nach seinem Tod nicht mehr meistern können. Trotz hoher und höchster Erkenntnisse waren sie unendlich weit vom unmittelbaren Einssein mit dem Leben entfernt geblieben. Aber jetzt war ihr Weg mit dem Baum der Erkenntnis zu Ende. Eine andere Instanz in ihnen hatte die Führung übernommen: der Menschensohn. Und in ihm hatten sie jetzt den unmittelbaren Kontakt zum Geist, aus dem heraus Jesus immer schon gelebt hatte.
Ohne den Schock, den der Tod ihres Meisters ihnen vermittelt hatte, wäre das nicht möglich gewesen!
Der Tod ihres Meisters führte die Apostel zur Erleuchtung. Durch diesen Schock sahen sie jetzt alles ganz klar. Es war erschütternd!
Erneut brach ein Strom von Tränen aus ihnen hervor. Der Mensch, der da unweit von ihrer Wohnung entfernt in seinem Grab lag, war ihretwegen getötet worden, weil sie seinen Tod brauchten, damit sie sich von den Früchten des Baums der Erkenntnis lösen konnten. Die Apostel zitterten am ganzen Leib. Ihr ganzer Organismus war in Aufruhr. Da war nichts, was sie dagegen tun hätten können und sie wollten auch gar nichts tun, sie ließen es einfach laufen.
So lange hatten sie ihn gekannt und doch war er diese ganze Zeit für sie nicht so lebendig gewesen, wie gerade jetzt, gerade durch seinen Tod. Jetzt, wo sie selbst unter dem Baum des Lebens standen, sahen sie, daß dieser Mensch immer schon da gewesen war! Die Apostel konnten ihre neue Welt noch nicht ganz fassen. Ihre Tränen flossen weiter und sie wandelten sich erneut zu Tränen des Glücks, denn jetzt war er bei ihnen, in seiner ganzen Wirklichkeit!
Und wie er waren auch sie jetzt vollkommen eins mit dem Leben. Wovor mußten sie Angst haben? Nichteinmal der Tod

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konnte ihnen etwas anhaben! Die Kraft, die sie beseelte, war etwas viel Größeres als ihr »Ich«. Und kein Grab konnte dieses Größere festhalten.
Aber sein Tod war notwendig gewesen für sie! Ohne ihn wären sie in ihrem »Ich« geblieben. Jetzt aber waren sie wirklich neu geboren! Und er war mit ihnen, jetzt und für immer!

Aber Thomas war nicht dabei, als das mit seinen Freunden geschah. Und als er wieder mit ihnen zusammentraf, sagten sie ihm nur: »Wir haben den Herrn gesehen.« Thomas konnte das nicht verstehen. Er hatte ja nicht miterlebt, was die anderen durchgemacht hatten. Er war noch gefangen in der Welt seiner Vorstellungen. Deshalb meinte er, sie hätten ein Gespenst gesehen. Und so sagte er, was er von diesem Verständnis aus sagen mußte: »Wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.«
Die anderen Apostel hatten Verständnis für diese Bemerkung. Sie wußten nur zu gut, wie hartköpfig sie gewesen waren. Thomas mußte es selbst erleben, um zu verstehen. Und so kam es auch. »Acht Tage darauf«, sagt die Geschichte - auch um anzudeuten, daß das Gedächtnis an die Auferstehung von da an immer an diesem ersten Tag der Woche gefeiert wurde - »waren seine Jünger wieder versammelt und Thomas war dabei. Die Türen waren verschlossen.« Die Türen waren verschlossen.
Die Gefahr ist ausgeschlossen. Vertrauen ist möglich. Geheimnisse können jetzt hervorkommen, selbst wenn sie schon sehr lange unter Verschluß gehalten worden sind. Wir kennen das Geheimnis bereits, aber Thomas kannte es noch nicht.
Als Entspannung eingekehrt war, begannen die anderen Apostel, ihm von ihrem Erlebnis zu erzählen. Sie brauchten ihm nicht zu erklären, daß die Erscheinung kein Gespenst war, er konnte es bald selbst sehen.

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Schritt für Schritt kamen sie dem Punkt näher, an dem Thomas dann zusammenbrach. Es geschah ohne jeden Vorwurf. Aber der Blick, mit dem Jesus die Kranken berührt hatte, lag jetzt auf Thomas. Dieser Blick kam jetzt von seinen Freunden.
Er spürte, daß sie bis auf den Grund seiner Seele schauen konnten. Und sein Blick folgte dem ihren: Da lag nun alles vor ihm ausgebreitet, sein ganzes Leben, alle Punkte, an denen er sich verhärten hatte müssen, um sich zu schützen vor den Verletzungen, all die Vorstellungen, die er sich gemacht hatte, um das Spiel mitspielen zu können, und all die Kränkungen, die er weitergegeben hatte, um sich zu beweisen, daß er wer war. Und jetzt, wo das alles offen vor ihm dalag, ergriff ihn ein nie gekanntes und doch so ersehntes abgrundtiefes Verständnis. Er war in einer anderen Welt! Aus einem lebenslangen Alptraum erwacht! Alles, was er bisher für »Leben« gehalten hatte, war offensichtlich eine Illusion gewesen!
Seine Forderung, seine Finger in die Wunden Jesu zu legen! Was für ein Trotz!
Wie er so zurückblickte in seine alte Welt, begann jetzt in Thomas etwas, das später als eine Wirkung des »Heiligen Geistes« bekannt wurde, etwas, das alle Menschen durchmachen, wenn sie auf den Kern ihres Wesens stoßen: Die Sufis nennen es »Dhikr«, die Japaner »Katsugen«, die Evangelien berichten davon in Zusammenhang mit Teufelsaustreibungen und in der Apostelgeschichte erscheint es als Sturm und als feurige Zungen - nämlich die spontane Reaktion des Organismus auf die Befreiung von der eisernen Umklammerung, in die ihn das »Ich« mit seiner Unterscheidung von »gut« und »schlecht« gezwängt hat: Reinigende Konvulsionen und Zuckungen, Brüllen, Jammern, Weinen, Lachen, das äußere Abbild des inneren Vorgangs, wenn eine Welt zusammenbricht und neues Leben geboren wird. Und Tränen am Ende, die die Trümmer der alten Welt fortschwemmen und den Blick freimachen auf den neuen Menschen, auf den »Menschensohn«, in dem Gott auf Erden erscheint.

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Und dann war »der Menschensohn«, in dessen Namen Jesus gelebt hatte und für den er gestorben war, auch in Thomas auferstanden, erweckt vom »Vater«, dem Ursprung aller Natur, deren Triebkraft ja von Anfang an die Sehnsucht nach dem vollkommenen Erscheinen des eigenen Wesens ist: JAHWE, ich bin der, der ich bin.
»Mein Herr und mein Gott« war alles, was Thomas da noch sagen konnte. Und er sah, welches Glück es war, wenn jemand seinen Grund entdecken konnte ohne einen derart beschämenden Beweis, wie er ihn verlangt und auch bekommen hatte — und auch ohne den schrecklichen Beweis, den der Prophet Jona gebraucht hatte:
»Selig, die nicht sehen und doch glauben.«
 

 

Meditation

Um dein Einfühlen zu vertiefen kannst du den Abschnitt über den Apostel Thomas auch als Meditation verwenden:

Zu Beginn achte wieder auf deinen Atem und laß dich ganz zur Ruhe kommen.

Laß dann die Geschichte vom Auferstehungserlebnis der Apostel noch einmal an dir vorüberziehen, indem du den vorangegangenen Abschnitt in deiner meditativen Ruhe noch einmal liest und auf dich wirken läßt. Erlebe jede Einzelheit als einer der damals Beteiligten.
Und dann geh hinein in den ungläubigen Thomas und erfahre seine Verwandlung an dir selbst.

In den Armen deines Meisters kehre am Ende zurück in die stille Meditation. Laß nun mit dem Ausatmen alles los, was dich von deiner Erlösung trennt und beim Einatmen spüre wie Kraft in dein Zentrum strömt, dorthin, wo jenseits deiner Tränen dein Jubel erwacht.

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Pfingsten
(Apg 2, 1-6. 12f.; Joh 16,7f.)

 

Und etwas Derartiges geschah von da an immer wieder, wenn sie sich trafen, und es erfaßte jeden einzelnen und die ganze Versammlung - denn es gab noch so viel an Verkrustetem, das sich erst lösen mußte und das sich immer wieder verfestigte. Dem jüdischen Kalender nach geschah das in den sieben mal sieben Tagen der Erntezeit, die auf das Paschafest folgen. In dieser Zeit sollen nämlich in der inneren Welt die Schalen abgelöst werden, die die Nacktheit verbergen, die vom Baum der Erkenntnis stammt, bis am fünfzigsten Tag der wahre Mensch erscheint. »Der fünfzigste Tag« (Pfingsten) markiert in der jüdischen Überlieferung den Abschied des Menschen aus »dieser« Welt und seinen Eintritt in die Ewigkeit. Und wie Mose vierzig Tage mit Gott war auf dem Berg Horeb, so waren die Apostel »vierzig Tage« mit dem »Auferstandenen«, denn so lange, heißt es, ist er ihnen immer wieder »erschienen«. Danach war das Ferment nicht mehr nötig. Jesus konnte nun »zurückkehren« zum Vater. Die Mauern, die den Geist behindert hatten, waren jetzt abgebaut.
Und »am fünfzigsten Tag« vollendete dieser Geist selbst das Werk und sprengte die letzten Fesseln (Apg 2, 1-6 . 12f):

1 Als der fünfzigste Tag gekommen war,
befanden sich alle am gleichen Ort.
2 Da kam plötzlich vom Himmel her ein Tosen,
wie wenn ein gewaltiger Wind dahinstürmt,
und es erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen,
3 und es erschienen ihnen aufgespaltene Zungen [Sprachen] wie Feuer,
und es kam über jeden einzelnen von ihnen,
4 und alle wurden erfüllt von heiligem Atem,
und sie begannen, in verschiedenen Zungen [Lauten] zu reden,
so wie der Geist es sie heraussagen ließ.
5 In Jerusalem aber wohnten Juden,
fromme Männer, aus jedem Volk unter dem Himmel.

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6 Als nun diese Stimme entstand,
strömte die Menge zusammen und war ganz verwirrt,
denn ein jeder hörte sie in seinem eigenen Tonfall lallen. ...
12 Alle entsetzten sich und waren ratlos.
Die einen sagten zueinander: Was soll das sein?
13 Andere spotteten: Sie sind voll von süßem Wein.

Waren die Apostel betrunken?
Sie waren außer sich, aber nicht durch Alkohol: Sie waren eben dabei, die letzten Reste ihrer alten Welt abzuschütteln und ihre ersten Schritte zu tun im wiedergewonnenen Paradies - sieben Wochen nachdem sie zum ersten Mal voll bewußt auf ihre eigene Gottebenbildlichkeit gestoßen waren, von der aus sie sehen konnten, daß der Mensch Jesus war wie kein anderer, ein exemplarischer »Sohn« Gottes, »der« Messias, der »Christus« und Erlöser, und daß er lebt, obwohl er gestorben ist.
»Zerteilte Sprachen«, heißt es V. 3, kamen in den Aposteln hoch. Sie redeten »in Zungen«. Sie lallten. Sie erfuhren die Elemente der menschlichen Ursprache. Und jeder konnte sie verstehen (V. 6). Sie erlebten das Wunder, Mensch zu sein, in allen Facetten. Sie konnten es noch nicht ganz fassen. Die Sprachfetzen, Laute, Gefühlsausbrüche, Bewegungen, Zuckungen, die da spontan aus ihnen hervorbrachen, hatten sie seit ihrer Kindheit zurückgehalten hinter einer Barriere aus Angst. Aber jetzt war diese Barriere (des Zeitlichen vom Ewigen her) aufgehoben und alles Angestaute sprudelte hervor. Der ganze Raum, in dem sie waren, war erfüllt von Zucken, Zappeln, Stöhnen, Schreien, Lachen, Lallen, Singen, Tanzen. Wie Kinder ließen sie es laufen und sie genossen es. Die Erschütterungen dieser Tage hatten ihnen nicht nur die Augen geöffnet, sondern ihr ganzes Menschsein! Jetzt waren sie wirklich heil und da mit jeder Faser ihres Seins. Endlich! Mit Fleisch und Blut waren sie Kinder des lebendigen Gottes! Das wußten sie jetzt! Und sie konnten das Göttliche jetzt überall sehen - auch in den Menschen, die ihnen zuvor weit entfernt davon erschienen waren und die selbst

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nichts von ihrer verborgenen Natur ahnten. Es war ein Wunder! Alles war ein Wunder! Überall nichts als der Geist!
Sie konnten dieses Wunderbare nicht für sich behalten. Sie mußten hinausgehen und es allen mitteilen, damit alle teilhaben konnten an dem Glück. Und, unfähig zunächst noch, zu sprechen, lallend vor dem Unfaßbaren, traten sie vor die Menge, die vor ihrem Haus zusammengelaufen war wegen der Laute, die sie von sich gegeben hatten. Schließlich gelang es dem Petrus (dem »Fels«), in Worte zu fassen, was sie bewegte. Und der Funke sprang über. »Dreitausend«, so heißt es, begriffen an diesem Tag, was es heißt, ein Kind Gottes zu sein. Und sie ließen ihre Illusionen und ihre Verletzungen von sich abwaschen, d.h. sie ließen sich taufen »auf den Namen« ihres soeben erkannten göttlichen Vaters und »auf den Namen« des göttlichen Sohnes, zu dem ihr Bewußtsein nun erwacht war und der ihnen in der Gestalt Jesu den ursprünglichen Kontakt wieder vermittelt hatte, und »auf den Namen« des göttlichen Geists, von dem allein sie jetzt bewegt wurden.
Die Apostel trafen genau den richtigen Ton. Sie kannten die Situation ihrer Zuhörer. Das gewaltige Gewicht der Illusionen und Schmerzen, das bei fast allen Menschen das göttliche Leben unter Verschluß hält, war ja eben erst von ihnen gewichen. Diese Last war auch für sie so selbstverständlich gewesen, daß sie sie kaum noch bemerkt hatten. Aber der Schmerz über den Tod ihres Meisters war mehr gewesen, als sie tragen konnten. Und da hatte sich das Göttliche in ihnen zur Wehr gesetzt und alle Ver-dammungen abgeschüttelt.

Das Gleiche ist oft vorher geschehen und oft nachher und es geschieht auch heute noch. Seit es Menschen gibt, wird das Ebenbild Gottes immer wieder verschüttet und immer wieder befreit es sich. Und so gibt es in aller Welt seit je her immer wieder Verwandlungen von der Art, wie die Apostel sie damals erlebt haben.

Und wenn du dich dieser Erfahrung nun selbst noch weiter nähern möchtest, kannst du den Übungen folgen, die du am Ende des nächsten Abschnitts findest.

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Zur Copyright Information

Zur Einführung in die Thematik (Vorbemerkung etc.)

Wie die Jünger Jesu die Auferstehung erlebten
Zum Thema Pfingsten
Zum Thema "Ende >dieser< Welt und Erscheinen des Menschensohnes"
Zu "Ist der Leichnam Jesu wieder lebendig geworden?"
Zu "Die Antworten Jesu auf die Frage nach der Auferstehung"
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